Wer hätte gedacht, dass der 86-jährige Silvio Berlusconi noch einmal zum Königsmacher der italienischen Politik würde. Obwohl seine Forza Italia bei den Parlamentswahlen Ende September auf magere acht Prozent der Stimmen zurechtgestutzt wurde, wird die postfaschistische Wahlsiegerin Giorgia Meloni ohne die Unterstützung des noch immer lautstarken Ex-Ministerpräsidenten keine Regierung bilden können. Mehrere Ministerposten für seine Parteigenossen und das Amt des Senatspräsidenten für sich selbst hat Berlusconi schon eingefordert.
Ob der "Cavaliere" nahezu zeitgleich im 900 Kilometer nördlich gelegenen Unterföhring seine Finger bei der Inthronisierung des neuen ProSiebenSat.1-Chefs Bert Habets im Spiel hatte, lässt sich hingegen nicht so leicht klären. Dafür spricht, dass der seit Mai amtierende Aufsichtsratsvorsitzende Andreas Wiele offenbar mehrfach mit Marco Giordani, dem Finanzvorstand des Berlusconi-Konzerns MFE MediaForEurope, getagt hat – ein Dialog, den sowohl Ex-CEO Rainer Beaujean als auch Wieles Vorgänger Werner Brandt dem 25-Prozent-Aktionär aus Italien stets verweigert hatten.
Offiziell hat Berlusconi senior mit alldem natürlich nichts zu tun. Sein Sohn Pier Silvio Berlusconi führt die börsennotierte Gruppe, die bis Ende 2021 noch Mediaset hieß, seit sieben Jahren. Trotz drei Milliarden Euro Umsatz kann man mit Fug und Recht von einem Familienunternehmen sprechen: Während nur rund ein Viertel der stimmberechtigten Aktien im freien Handel ist, hält Hauptaktionär Fininvest 47,9 Prozent der Anteile an MFE. Fininvest wiederum gehört zu knapp zwei Dritteln Silvio Berlusconi; seine Kinder aus erster Ehe, Pier Silvio und Marina, sind zu jeweils knapp acht Prozent beteiligt, seine jüngeren Kinder Barbara, Eleonora und Luigi halten den Rest.
Mit 32 TV-Sendern in Italien und Spanien darf MFE sich heute als einer der meistgesehenen Fernsehanbieter Europas rühmen. Laut European Audiovisual Observatory entfielen im Jahr 2020 durchschnittlich 131 Millionen Stunden Sehdauer täglich auf die Programme der Gruppe – mehr als ZDF und ProSiebenSat.1 zusammen. Lediglich die RTL Group lag mit 137 Millionen Stunden knapp davor, allerdings verteilt auf 66 Sender. Geht es nach Pier Silvio Berlusconi, soll die geplante paneuropäische Skalierung den Konzern noch in ganz andere Größenordnungen katapultieren.
Seine These, die zum Einstieg bei ProSiebenSat.1, zur Umbenennung von Mediaset in MediaForEurope und zur Sitzverlegung nach Amsterdam führte: Nur als starke Allianz mit lokalen Standbeinen über den Kontinent, gemeinsamer Investitionskraft und enstprechenden Synergien werde man langfristig mit globalen Plattformen konkurrieren können. Bei der Umsetzung hinkt Berlusconi junior seinem ursprünglichen Zeitplan hinterher, weil die Widerstände – nicht nur aus Unterföhring, sondern bis zur Einigung im vorigen Jahr auch vom französischen Minderheitsgesellschafter Vivendi – heftiger als ewartet ausfielen.
Dass die MFE-Strategie oftmals bloß unter dem Gesichtspunkt der Fusion von Sendern diskutiert wird, springt dabei erheblich zu kurz. In sämtlichen Äußerungen und Präsentationen stellen Berlusconi und seine Manager stets den Aspekt der Content-Produktion an erste Stelle. Kein Wunder: In Italien und Spanien zählen die zu MFE gehörenden Produktionsgruppen Medusa Film, Taodue Film und Mediterráneo teils seit Jahrzehnten zu den leistungsstärksten Programmlieferanten – nicht nur für die eigenen Sender, sondern auch für die Konkurrenz und fürs Kino. So schaffte es dieses Jahr etwa die Sozialdrama-Serie "Wrong Side of the Tracks" von der Mediterráneo-Tochter Alea Media nach ihrer TV-Premiere auf Telecinco in 31 Ländern in die Netflix-Top-10. Aus demselben Haus hatten zuvor schon "Patria" bei HBO, "Mothers" bei Amazon Prime Video und "Blowing Kisses" bei Disney+ international für Furore gesorgt. Taodue bescherte Netflix mit "Yara" einen der meistgestreamten nicht-englischsprachigen Filme des vergangenen Jahres, während Medusa mit Mario Martones "Nostalgia" für Italien ins Rennen um den Oscar für den besten internationalen Film 2023 zieht.
Beim weiteren Ausbau seines paneuropäischen Netzwerks sucht MFE also nicht nur nach Sendern, sondern auch nach Produktionsfirmen. Ein Grund mehr, weshalb ProSiebenSat.1 mitsamt seiner Produktions- und Vertriebstochter Red Arrow Studios attraktiv erscheint. Dass MFE fortan auch hierzulande deutlich präsenter auftritt als bisher, garantiert die frisch berufene Katharina Behrends, die seit 1. Oktober als General Managerin für die DACH-Region amtiert und ein MFE-Büro in München aufbaut. Es wird erwartet, dass sie spätestens im Frühjahr 2023 in den ProSiebenSat.1-Aufsichtsrat einzieht, um den Sitz von Bert Habets zu übernehmen. Darüber hinaus dürfte es auch zu ihrem Mandat gehören, mögliche Akquisitionen im deutschsprachigen Produktionsmarkt zu identifizieren.