Weit mehr als eine Million Menschen werden an diesem Wochenende zum Christopher Street Day in Köln erwartet – und alleine die Demonstration, die am Sonntag auf mehr als fünf Kilometern Länge für mehr Akzeptanz der LGBTQ+-Community wirbt, fällt mit 170 teilnehmenden Gruppen so umfangreich aus wie noch nie. Zu sehen gibt es die Demo-Parade im WDR Fernsehen, das auch darüber hinaus noch einige queere Formate ins Programm nehmen wird.
Doch schon vor der Ausstrahlung dürfte klar sein: So bunt wie Ende der 90er dürfte es in dem Dritten Programm rund um den CSD in diesem Jahr wohl kaum zugehen. Damals, im Jahr 1998, hatte der WDR seinem damaligen Nachttalker Jürgen Domian im Fernsehen und Radio gleich mehrere Stunden Sendezeit freigeräumt, um sich dem Kölner CSD am späten Samstagabend zu widmen. Und wer sich diese heute ansieht, dürfte erstaunt darüber sein, was damals im öffentlich-rechtlichen Rundfunk möglich war.
"Hier in Köln tanzt die Luzie, tanzt der Bär", begann Domian die Sendung – und wer wollte, durfte nicht nur mit Domian telefonieren, sondern ihn direkt in den WDR-Arkarden an der Nord-Süd-Fahrt besuchen, "nur einen Sprung entfernt von der großen Schwulen-Disco Lulu", wie der Moderator anmerkte. Was danach folgte, war progressives Fernsehen, weil vieles von dem, was in der Show gezeigt wurde, nahezu komplett ohne Netz und doppelten Boden über den Sender ging.
Schön auch, wie viel Zeit sich die Sendung nahm, um ernsthafte Gespräche zu führen – am Telefon, im Studio, aber auch im sogenannten "Bermuda-Dreieck", wo sich Reporterin Randi Crott vor dem "Café Huber", der heutigen "Mumu", minutenlang mit zahlreichen CSD-Besuchern darüber unterhielt, wieso es sie an diesem Wochenende in die Domstadt zog. Einer der damals Interviewten kam aus Neuss, erzählte davon, wie kleinbürgerlich er seine Heimat empfand, und dass es schwierig sei, dort mit seinem Freund Hand in Hand auf der Straße zu gehen. Hier in Köln, gab er zu Protokoll, sei das viel einfacher.
Doch die Show bot freilich auch skurrile Momente – so wie jenen, der sich gleich zu Beginn ereignete und im Fernsehen vermutlich einen bleibenderen Eindruck hinterließ als im Radio. Der Grund: In einer Live-Schalte betrat Schauspieler Georg Uecker die Wohnung seines laut Eigenbeschreibung als "Regenbogen-Gladiator" verkleideten "Lindenstraßen"-Kollegen Claus Vinçon, der dort eine stattliche CSD-Party veranstaltete. "Hier sind sehr viele homosexuelle Menschen in freudiger Erwartung", schilderte Uecker seinen ersten Eindruck.
Kurz darauf folgte die Besichtigung des Schlafzimmers. "Das interessiert dich doch am meisten", mutmaßte Vinçon – und öffnete prompt die Tür, hinter der sich ein unbekleideter Mann verbarg. Auf dem Bauch liegend und von einigen staunenden Gästen umringt, ließ er sich inmitten der Live-Sendung im wahrsten Sinne des Wortes den Hintern versohlen, was den WDR-Kameramann nicht davon abhielt, ganz nah draufzuhalten. "Handwerk hat goldenen Hoden", kommentierte Uecker das Spektakel. Und: "Rinderwahnsinn ist noch so ein bisschen untertrieben."
Plötzlich mischte sich auch Domian in die Schalte ein: "Sag dem Kollegen, er soll ein bisschen kräftiger schlagen. Das würden wir gerne sehen." Gesagt, getan. Getoppt wurde die Szenerie nur durch zwei als Frauen verkleidete Männer, die im Hintergrund aus unerfindlichen Gründen "That what friends are for" trällerten. Gut möglich, dass so viel ungefilterte Live-Berichterstattung aus dem Schlafzimmer heute einen veritablen Shitstorm erzeugen würde. Damals aber gab sich der WDR betont mutig und ließ das Treiben einfach geschehen. So auch wenig später, als der Blick ins Badezimmer zwei junge Männer zeigte, die bis dato im Schaumbad die traute Zweisamkeit genossen.
Im Rückblick ist die Sendung von damals vermutlich auch deshalb so erstaunlich, weil sie einen Schlüssellochblick in eine Welt gewährte, die für viele der Zuschauerinnen und Zuschauer – erst recht in den 90er Jahren – ganz weit weg war. All das zu zeigen, ganz nah an der Community und fernab einer bis ins letzte Detail durchchoreografierten Show, erforderte gewiss Mut. Wie toll wäre es, würde sich der WDR beim nächsten CSD, ein Vierteljahrhundert später, noch einmal auf ein solches Experiment einlassen. Im Zweifel ginge es auch ohne Plüschmikro.