Claudia Roth kommt in diesen Tagen aus dem Krisenmodus nicht heraus. Sogar Rücktrittsforderungen muss sich die Kulturstaatsministerin anhören, seit das „Documenta-Debakel“ seinen Lauf nimmt. Doch Roth, medienerfahren wie kaum eine andere Politikerin, stellt sich den Kameras, egal wo sie gerade ist. So auch am Montag vor einer Woche auf der von der Deutschen Welle ausgerichteten Medienkonferenz Global Media Forum.

Kaum hatte sie sich kämpferisch (und auf Englisch) in die Auftaktdiskussion über „Shaping the future of journalism in wartimes“ geworfen und mit Blick auf die Ukraine betont, dass „Waffen sehr wichtig sind, aber unabhängiger Journalismus ist auch eine Waffe“, da eilte sie schon hinaus aus dem Plenarsaal in Bonn vor das wartende Team für die „Tagesschau“. Ein Wandbild mit antisemitischen Darstellungen auf der just am Wochenende zuvor eröffneten Kasseler Weltkunstschau schlug Empörungswellen in einem schon länger wabernden Skandal. Und Roth, die zuvor noch betont hatte, sie werde „nicht als Kulturpolizistin den Daumen heben oder senken“, tat nun genau das: Im aktuellen Fall finde die Kunstfreiheit ihre Grenzen, sagte sie entschlossen.

Man untertreibt nicht, wenn man festhält, dass das erste halbe Amtsjahr die mächtigste Kultur- und Medienpolitikerin des Landes gewaltig herausfordert. Gefragt nach ihrer persönlichen Bilanz, antwortete Roth im Vorfeld des Global Media Forum gegenüber DWDL.de, sie hätte sich bei Amtsantritt in ihren „schlimmsten Albträumen nicht vorstellen können, dass es nur zwei Monate später einen grausamen Krieg in Europa geben würde“. Dessen Folgen seien „von einem Tag auf den anderen zum wichtigsten Schwerpunkt und zur größten Herausforderung“ ihrer Arbeit geworden.

Die 1955 in Ulm geborene Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM), so die korrekte Jobbeschreibung, gilt als eine der erfahrensten aktiven Grünen-Politikerinnen. Den Plenarsaal unmittelbar am Rhein, wo sich Medienschaffende aus aller Herren (und Damen) Länder zum DW-Kongress einfanden, kennt sie noch sehr gut aus der Zeit, als sie in der Bonner Republik Pressesprecherin der Grünen-Fraktion war. Sie verbindet mit ihm „sehr hässliche Szenen“ von Abgeordneten, die in Debatten über Frauenrechte mit Hohngelächter ihren Sexismus offen zeigten. Zugleich blieb ihr die Amtseinführung der ersten rot-grünen Bundesregierung 1998, für die sie den Vorsitz im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe übernahm, in positiver Erinnerung: „Nach den bleiernen Jahren unter Helmut Kohl war das wirklich ein Aufbruch in eine neue Zeit.“

Claudia Roth, Sabine Schorrmann © IMAGO / Rüdiger Wölk Haben ein Problem: Claudia Roth und Sabine Schormann, Generaldirektorin der documenta

Dem Bundestag mit Sitz in Berlin saß Roth bis zum vorigen Dezember als Vizepräsidentin vor. Mit dem Regierungswechsel wechselte sie als sechste BKM in eine Reihe, die mit Michael Naumann (SPD) 1999 begann. Ihre direkte Vorgängerin Monika Grütters (CDU) weitete Macht und Einfluss des Amtes enorm aus. Der Etat stieg zuletzt auf 2,29 Milliarden Euro und damit um sieben Prozent im Vorjahresvergleich. Auch die Corona-Hilfen im Kulturbereich laufen weitgehend über das Haus; so ist das Rettungsprogramm „Neustart Kultur“ bis zum 30. Juni 2023 verlängert.

Dass die Grünen – statt der SPD – für Kultur und Medien innerhalb der Ampelregierung zuständig sein sollten, war für viele, bis auf die „taz“, eine Überraschung. Nicht zuletzt für Claudia Roth selbst. Einem Facebook-Post entnimmt man diesen schönen Satz von ihr: „Hätte mir jemand vor 40 Jahren gesagt, als ich mit den Scherben im Bus durch die Gegend getourt bin, dass ich Ende 2021 Kulturstaatsministerin werde, dann hätte ich die Person wohl für verrückt erklärt.“

Tja, die Scherben. In den ersten Reaktionen auf die Überraschungs-Staatsministerin fehlte der Hinweis nicht, dass Claudia Roth einmal die Managerin der Polit-Rockband Ton Steine Scherben war, dass sie also in Kulturdingen versteht, wovon sie spricht, speziell von der Musikszene in all ihren Schattierungen. Die bunten Töne des Africa Festivals in Würzburg schätzt sie ebenso wie die des Eurovision Song Contest, den sie in diesem Jahr – es war zugleich die Nacht in ihren 67. Geburtstag – mit zwei doch etwas irritierten „Stern“-Reportern in einer Kölner Schwulenbar verfolgte. Ihre Expertise und Euphorie für die Musik drücken sich auch darin aus, dass ihr Haus das „Kulturgut Schallplatte“ in den nächsten Jahren mit bis zu 2,1 Millionen Euro fördern möchte.

Noch unklare filmpolitische Agenda

Aber auch das wurde über die neue Kulturstaatsministerin geschrieben: Sie sei „medienpolitisch eher ein unbeschriebenes Blatt“. Während Verbände und Institutionen aus dem Kulturbereich fast schon überschwänglich auf ihre Ernennung reagierten, verhielt sich die Medienbranche abwartend. Auf Seiten der TV- und Filmwirtschaft will man aber jetzt nicht länger warten. Es pressiert. Bereits im April hatte der Produzentenverband in einer schriftlichen Stellungnahme gefordert: Die BKM solle eine „klare film- und kulturpolitische Vision“ vorschlagen und die Maßnahmen zur Förderung des deutschen Films neu denken. Das Verbandspendant Allianz Deutscher Produzenten drängt ebenso auf zügiges Handeln.

Dass Claudia Roth den Corona-Ausfallsfonds für Fernsehproduktionen bis März 2023 verlängerte sowie den German Motion Picture Fund erhöhte (90 Millionen Euro davon sollen in die Unterstützung des Serien-Booms fließen) – das wertet Geschäftsführer Björn Böhning im Gespräch mit DWDL.de als „hoffnungsvolle Signale für die weitere Zusammenarbeit“. Gleichwohl kann er ihre filmpolitische Agenda „noch nicht vollständig absehen“. Bei der Novelle des Filmförderungsgesetzes (FFG), mit der eine etwaige Investitionsverpflichtung einhergeht, und der im Koalitionsvertrag angekündigten Neuordnung der Fördersysteme sei „bisher nicht erkennbar, wo die Reise hingeht“. Aber, fügt der vormalige Staatssekretär im SPD-Ministerium von Hubertus Heil an, sein Verband sei willens, über eine Neuordnung der Fördersystem zu sprechen: „In den Dialog sollte man jetzt sehr schnell treten.“

Claudia Roth auf der Berlinale © IMAGO / Marja Claudia Roth im Februar auf der Berlinale – für sie ein "ganz besonderer Höhepunkt" und "wichtiges Aufbruchssignal" für die gesamte Kultur-, Film- und Unterhaltungsbranche

An Roths Dialogbereitschaft lässt Nico Hofmann keinen Zweifel aufkommen. Ob auf der Berlinale oder zuvor beim Empfang der Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg – der CEO der Ufa erlebt die Staatsministerin „immer als sehr engagiert, glaubhaft und herzlich“. „Ich mag ihre Direktheit und Ehrlichkeit und nehme ihr das Authentische ab“, sagt er gegenüber DWDL.de. Er glaubt, sie habe auch eine große Affinität zum Film. Mit der Filmbranche pflege sie jedenfalls einen persönlichen Umgangsstil, der ihm gefällt. „Ich habe das Gefühl, dass wir von Claudia Roth gehört werden und dass sie ein Gespür für uns entwickelt.“

Was das Thema Nachhaltigkeit betrifft, verfolgen Roth und Hofmann dieselben Ziele. Nicht nur die Ufa, die gesamte Branche unternimmt derzeit gewaltige Anstrengungen in Richtung Klima- und Umweltschutz, den auch die Staatsministerin vorantreiben will. Im Februar schuf sie gemeinsam mit den Filmförderungen der Länder, der Filmförderungsanstalt und dem Arbeitskreis Green Shooting einheitliche ökologische Mindeststandards für die Film-, TV- und Video-on-Demand-Branche, die vom 1. Januar 2023 an gelten sollen. Zudem gründete ihre Behörde ein Referat „Kultur und Nachhaltigkeit“. In Planung ist ein „Green Culture Desk“, also eine zentrale Anlaufstelle, die für Wissenstransfer sorgt und Best-Practice-Beispiele gibt.

 

Ich habe das Gefühl, dass wir von Claudia Roth gehört werden und dass sie ein Gespür für uns entwickelt

Nico Hofmann über Claudia Roth

 

„Wir alle wollen klimaneutral produzieren“, sagt Ufa-Chef Hofmann stellvertretend für die Produzentenlandschaft. Er sieht in Claudia Roth auch eine Verbündete im Bestreben um mehr Diversität. Als die Ufa sich zu mehr Vielfalt vor und hinter der Kamera selbstverpflichtete, wurde das in der Branche kritisch beäugt. Hoffmann hält Kurs: „Wir gehen den Weg trotzdem weiter und sehen, dass Claudia Roth bei der Besetzung ihrer Gremien in die gleiche Richtung denkt.“

Bei aller Sympathie und Einigkeit über die gemeinsamen Herzensthemen: Auch auf Hofmanns Wunschzettel an Claudia Roth steht ein „Bitte handeln“. Während der Bewegtbildmarkt in Deutschland geradezu explodiert, nimmt der Druck amerikanischer Großkonzerne enorm zu. „Wir müssen da unbedingt eine deutsche Gegenantwort finden, nicht nur im Kinobereich“, fordert der Ufa-Boss. Denn Kino und Fernsehen rückten immer stärker zusammen. „Eine Kulturpolitik, die sich nur am Kino ausrichtet, ist nicht mehr zeitgemäß. Sie muss ihre Förderinstrumente neu ausrichten.“ Vor allem der Bereich der hochwertigen, international vermarktbaren Serienproduktionen sollte ambitioniert aufgewertet werden.“

Noch hält sich die BKM bedeckt, welche Ambitionen sie selbst in Sachen Filmförderung hegt. Es ist Krieg und ihr Hauptaugenmerk gilt, wie bereits erwähnt, dessen Folgen. Zur Unterstützung von Kultur- und Medienschaffenden aus der Ukraine, aber auch aus Belarus und Russland hat Roth im Ergänzungshaushalt 2022 mehr als 20 Millionen Euro erhalten. Sie sollen etwa in Form von Stipendien, Ausrüstung und Residenz-Programmen weitergereicht werden.

Am Vorabend des Global Media Forum trommelte Roth außerdem ihre Amtskolleginnen und -kollegen der G7-Staaten in Bonn zusammen, um eine gemeinsame Strategie zum Erhalt von Presse- und Meinungsfreiheit zu erarbeiten und „Marktregeln mit Blick auf große, dominante Plattformen zu erörtern“. Zugeschaltet war auch der ukrainische Kulturminister. Es war das erste Treffen dieser Art. Die ehemalige Europapolitikerin Roth setzte mit dieser Initiative sozusagen eine dicke Fußnote auf ihr medienpolitisches Blatt. Wohin dieses „starke Signal der Einigkeit“ gegen Desinformation und für Pressefreiheit konkret führen wird, bleibt indes abzuwarten.

Noch eine Baustelle: Die Deutsche Welle

In ihren Zuständigkeitsbereich fällt ein, wenn man so will, weiteres Kriegsopfer: die Deutsche Welle. Das deutsche Auslandsfernsehen wird aus Roths Etat finanziert (in diesem Jahr mit einem Plus von 13,5 Millionen Euro); sie selbst hat einen Platz im Rundfunkrat. Noch bevor die russischen Panzer über die ukrainische Grenze rollten, musste die DW das Büro in Moskau schließen. Es war Russlands Retourkutsche dafür, dass deutsche Medienregulierer zuvor dem eigenen Auslands-TV RT DE ein Sendeverbot erteilt hatten. Die deutsche Medienministerin nahm umgehend Kontakt mit ihrer Amtskollegin in Moskau auf. Doch das DW-Büro bleibt weiter zu.

An Unterstützung seitens Claudia Roth habe es in dieser Angelegenheit nicht gefehlt, ist aus DW-Kreisen zu hören. Geärgert habe man sich eher über das Bundespresseamt als „Verhinderer“, denn als Kanzler Scholz wenige Tage vor der Invasion zu Putin reiste, sollten Journalisten der Deutschen Welle nicht mitfahren. Erst auf Senderdruck kamen sie auf die Akkreditierungsliste. Seit Kriegsausbruch ist an eine Wiederaufnahme der DW-Berichterstattung aus Moskau nicht zu denken. Das Team arbeitet aus der lettischen Kapitale Riga. Intendant Peter Limbourg gab sich dennoch hoffnungsvoll: „One day we will be back in Moscow“, sagte er auf dem Global Media Forum.

Claudia Roth auf dem Deutsche Welle Global Media Forum © IMAGO / Panama Pictures Claudia Roth im ehemaligen Plenarsaal des Bundestages beim deutsche Welle Global Media Forum

Am Freitag vor Konferenzbeginn tagte übrigens Limbourgs Rundfunkrat. Diskutiert wurde unter anderem das Prüfergebnis einer Expertenkommission. Denn nicht nur die Documenta in Kassel, auch die Deutsche Welle in Bonn hat einen handfesten Antisemitismus-Skandal. Der Rundfunkrats-Vorsitzende begrüßte nach der Sondersitzung die Null-Toleranz-Linie der DW-Spitze. Wie sein Mitglied Claudia Roth über die ganze Sache denkt, war leider nicht zu erfahren.

Es brennt gerade an zu vielen Ecken. Die Kulturstaatsministerin ist trotz ihres beachtlichen Stabs aus 400 Beschäftigten nicht „Königin von Deutschland“. Aber was, wenn sie es wäre? Wenn sie sich also, wie einst Scherben-Frontmann Rio Reiser sang, nachts um halb eins beim Rauschen des Fernsehers vorstellt, dass sie Königin wäre?

Auf diese Frage gibt Claudia Roth sehr gerne eine Antwort. Auf ihrer Prioritätenlisten ganz oben: so schnell wie möglich aus den fossilen Energien aussteigen, „denn nur so können wir die fatale Abhängigkeit vom Putin-Regime beenden und die Klimaziele erreichen“.