Eine der spitzesten Zungen unter Hollywoods Fachpresse hat ohne Frage Richard Rushfield. Vor dem Newsletter des Ex-"Vanity Fair"-Redakteurs sind weder kleine Schönfärbereien noch große Strategie-Pannen sicher. Dieser Tage stellte Rushfield die ebenso freche wie naheliegende Frage, wer eigentlich die obersten Netflix-Bosse dem "Keeper Test" unterziehe. Diese spezielle Personalführungsmethode des Streamers sieht vor, dass Vorgesetzte nur jene Mitarbeiter behalten sollen, für deren Verbleib sie im Falle einer Kündigung kämpfen würden. Reed Hastings und Ted Sarandos, die Co-CEOs von Netflix, hätten "allzu bereitwillig geglaubt, die Regeln der Schwerkraft überwunden, die Fesseln der Erde abgestreift und das Antlitz Gottes berührt zu haben", so Rushfield.
Leiden müssten unter dem Absturz nun große Teile der Belegschaft, die Aktienoptionen statt vollem Gehalt bezogen hatten. Von der mutmaßlich bevorstehenden Kündigungswelle ganz zu schweigen. Doch Rushfield geht auch mit der Branche insgesamt ins Gericht, die Netflix blind gefolgt sei und ihre Geschäftsmodelle auf "magisches Denken" umgestellt habe: "Das gesamte Finanzkonzept der Branche war plötzlich an eine einzige Kennziffer geknüpft: die vierteljährlichen Abo-Zahlen, von denen man erwartete, dass sie ewig steigen würden, bis jedes Atom empfindungsfähigen Lebens in der Galaxie ein zahlender Abonnent ist – und dann halt weiter mit dem Abo-Verkauf im Multiverse."
Vor Häme, Erklärungsversuchen und guten Ratschlägen kann Netflix sich in diesen Wochen kaum retten. Kein Wunder angesichts der Vernichtung von mehr als 60 Milliarden Dollar an Firmenwert. Dabei waren selbst die skeptischsten Beobachter vom Ausmaß und Zeitpunkt des Crashs überrascht. Die Tatsache, dass der Marktführer erstmals in zehn Jahren nicht nur eine Verlangsamung seines Wachstums berichten musste, sondern einen realen Rückgang der Abonnentenzahl, nahmen die Finanzmärkte als Katalysator für eine drastische Neubewertung der langfristigen Gewinnaussichten im Ökosystem Streaming. So manche Überreaktion ist dabei einkalkuliert: Niemand glaubt ernsthaft, dass Netflix nicht auch wieder wachsen kann. Nur macht es eben einen entscheidenden Unterschied, wenn man bei 220 Millionen Abonnenten strauchelt, aber eigentlich ein Geschäftsmodell praktiziert, das von bis zu einer Milliarde Abonnenten in den nächsten Jahren ausgeht.
Noch völlig unklar ist hingegen, wie sich die akute Krise auf das künftige inhaltliche Angebot auswirkt. Netflix hat dem Vernehmen nach etliche Entwicklungsprojekte vorerst gestoppt und wird sein Investitions- und Produktionstempo in nächster Zeit wo immer möglich verlangsamen. Ein erstes prominentes Opfer ist die Emmy-preisgekrönte Kult-Sitcom "Schitt's Creek", deren Streaming-Rechte Netflix nach der dritten Staffel vom US-Kabelsender PopTV erworben hatte und die in den vergangenen zwei Jahren regelmäßig hohe Platzierungen in den Nielsen-Streaming-Charts einfuhr. Als unlängst die Neuvergabe der Rechte anstand, bot Netflix zwar noch mit, jedoch nicht mehr entfernt so viel, wie man wohl vor dem Absturz noch für die begehrten 80 Sitcom-Episoden gezahlt hätte. Der Zuschlag ging Ende April für rund 1,2 Millionen Dollar pro Folge an Hulu, wo "Schitt's Creek" ab Oktober zu sehen sein wird.
Das Beispiel zeigt, wie viel Musik noch immer in Lizenzdeals stecken kann, wenn man als Rechteinhaber die richtige Ware im Angebot hat – auch über das Produktionsende einer Serie hinaus. Nach wie vor erfreuen sich zugekaufte Titel auf allen größeren Plattformen im Durchschnitt mindestens ebenso großer Beliebtheit wie die jeweiligen Originals. Daraus könnte Netflix lernen, einen weiteren neuen Erlösstrom zu öffnen, den es bisher stets kategorisch ausgeschlossen hatte: die gezielte Syndizierung eigener Inhalte an Dritte – ein klassisches Studio-Geschäftsmodell also.
Auf Basis seiner Algorithmen wäre es ein Leichtes für Netflix, den Punkt auszumachen, ab dem ältere Originals – sei es "Glow", "The OA" oder "Dogs of Berlin" – mehr Wert in einem Lizenzfenster bei linearen TV-Sendern oder lokalen Streamern generieren könnten, als wenn sie auf der eigenen Plattform verstauben. Es könnte sein, dass Sarandos und seine Truppe schon in diese Richtung denken. Jedenfalls ist aus Hollywood-Agenturen und -Kanzleien zu hören, dass die Netflix-Juristen neuerdings besonders auf das vertragliche Recht pochen, Originals von der Plattform nehmen zu dürfen. Dies wäre für den Einstieg ins Lizenzgeschäft eine notwendige Voraussetzung.
Bei der Beauftragung neuer Originals stellen sich Agenten und Kreative darauf ein, dass die Zeiten des nahezu unkontrollierten Geldausgebens endgültig vorüber sind und Netflix deutlich wählerischer wird. Eine oftmals geäußerte Grundkritik in US-Branchenkreisen lautet ohnehin, dass TV-Chefin Bela Bajaria und Filmchef Scott Stuber zu viel Mittelmaß und zu wenige Hits aus ihren 18 Milliarden Dollar Content-Budget herausholen. Mehrere Produzenten und Kreative warfen Bajaria unlängst – anonym – via "Hollywood Reporter" vor, für die "Walmart-isierung" von Netflix verantwortlich und von der schieren Zahl ihrer Projekte überwältigt zu sein. Bei aller Aufregung in Los Angeles gibt es eine gute Nachricht für europäische Netflix-Lieferanten und solche, die es noch werden wollen: Da weiteres Wachstum für die Plattform fast nur außerhalb der USA möglich scheint, dürfte jegliche bevorstehende Sparpolitik Hollywood weitaus härter treffen als Berlin, Paris, Madrid oder Rom.