Am Mittwoch erhalten viele, die beim deutschen Radio arbeiten, ihr Zwischenzeugnis. Dann veröffentlicht die Arbeitsgemeinschaft Mediaanalyse (agma) neue Radio-Reichweiten. Sie sind ein Teil eines ganzen Zahlen-Wusts, den Marktforschende mittlerweile für Radiostationen zusammentragen. Während die Radio-Quoten von September bis März erhoben werden und zwei Mal (im März und Juli) erscheinen, laufen Marktforschungen rund um Musiktrends nahezu das ganze Jahr. Lieder machen immerhin bei den meisten Sendern den größten Anteil im Programm aus – und wollen daher gezielt ausgewählt werden.
Die Ergebnisse solcher Musiktests hat oftmals unmittelbaren Einfluss auf die Entscheidung, welche Hits in Heavy-Rotation kommen und welche gar nicht berücksichtigt werden. Speziell in der jüngeren Vergangenheit hat sich ein Trend verschärft. Immer weniger große Mainstream-Sender, die auf die Klangfarbe Adult Contemporary (AC) setzen, spielen deutschsprachigen Pop, deren wohl bekannteste Vertreter aktuell Künstler wie Mark Forster oder Wincent Weiss sind. "Deutsche Musik hat es bei den großen AC-Sendern nie ganz leicht gehabt, da sie bei Hörerinnen und Hörern polarisiert", plaudert ffn-Musikchef Niklas Gruse aus dem Nähkästchen. Genau das hat sich aber nochmals verschärft.
Exakt dieser Meinung ist auch Matthias Weber, Musikchef beim erfolgreichsten Radiosender in Hessen, Hitradio FFH. "Während deutsche Pop-Künstler wie Nico Santos, Zoe Wees oder Michael Schulte sehr erfolgreiche Hits veröffentlicht haben, hatten es Künstler, die ihre Songs in deutscher Sprache veröffentlichen, in den vergangenen zwei Jahren deutlich schwerer. Es war sehr auffällig, dass Songs von Max Giesinger, Mark Forster, Revolverheld, Sarah Connor und einigen mehr, entweder gar nicht oder nicht mehr so langanhaltend wie zuvor bei einem Großteil unserer Hörer gut ankamen", bestätigt er.
"Vor ein paar Jahren wirkten diese Titel noch deutlich innovativer als heute, wo heute vieles eher nach einem alten Schema produziert zu werden scheint." Tanja Ötvös, Musikchefin bei Radio Hamburg
Ursachenforschung: Was läuft also falsch bei Forster, Giesinger und Co.? "Meiner Meinung nach liegt es daran, dass die Titel im Moment nicht so stark sind und damit die Anziehungskraft auch deutlich nachgelassen hat. Vor ein paar Jahren wirkten diese Titel noch deutlich innovativer als heute, wo heute vieles eher nach einem alten Schema produziert zu werden scheint", meint Tanja Ötvös. "Die Grenzen zwischen deutscher Popmusik und deutschem Schlager sind oft fließend und beide Musikstile sind nicht miteinander kompatibel", glaubt Niklas Gruse und fährt fort: "Wer deutsche Popmusik mag, steht nicht zwingend auf Schlagermusik und erwartet diese auch nicht bei seinem Lieblingssender." Hinzu komme, dass inzwischen deutlich mehr deutsche Popmusik produziert werde als vor zehn oder 15 Jahren. "Es ist wie beim Kochen: Zu viel macht das Essen nicht schmackhafter."
Starke Zunahme des Genres verstärkt Polarisierung
Zu viel des Guten, dieses Argument bemüht letztlich auch der ffn-Musikchef: "Die starke Zunahme deutschsprachiger Musik, auch durch Castingshows, hat den Effekt der Polarisierung eher verstärkt." Das Segment deutschsprachiger Hits schrumpfe wieder, die Ablehnung der Hörerinnen und Hörer steige. "Viele Interpreten sind stimmlich und vom Arrangement kaum noch unterscheidbar. Die Einzigartigkeit geht verloren."
So klar haben sich bei Weitem nicht alle angefragten Sender geäußert. Einige wollten gar kein Statement abgeben, andere gaben sich diplomatisch. Für die Antenne Bayern Group etwa spielten die Herkunft von Künstlerinnen und Küstler und die Sprache ihrer Musik "grundsätzlich keine Rolle", teilte der bei Antenne Bayern für die Musik zuständige Steve Cremer mit. "Über die Musikauswahl und ihre Zusammensetzung entscheiden letztlich immer unsere Hörerinnen und Hörer im Rahmen der Markt- und Musikforschung." Übrigens: Mark Forster, Revolverheld, Sarah Connor, Max Giesinger oder Julis "perfekte Welle" liefen beim meistgehörten Privatsender Deutschlands in der vergangenen Woche in MA-relevanten Stunden (Mo.-Fr, 6-18 Uhr) kein einziges Mal.
Schnellerer Burn bei Deutschpop
Ähnlich strikt geht Radio Hamburg vor, wie Tanja Ötvös offen sagt. "Bei Radio Hamburg laufen im regulären Programm keine deutschsprachigen Hits. Lediglich am Abend in der Wunschsendung und am Wochenende in unseren AirPlayCharts finden sich hier und da deutschsprachige Titel, wenn sie entweder vom Hörer gewünscht werden oder sich entsprechend platziert haben." So rigoros sind nicht alle. Bei FFH ist deutschsprachige Pop-Musik weiterhin ein Teil des Musikprogramms. Weil die Hörenden sie auch erwarten würden. "Songs, die wir auf Playlist nehmen, erfüllen ja immer eine ganze Reihe von Kriterien, unabhängig davon, in welcher Sprache gesungen wird", erklärt FFH-Musikchef Weber. Die Aufgabe von ihm und seinem Team sei es eben, herauszufinden, welche Lieder die Hörerinnen und Hörer hören wollen. "Aktuell müssen wir leider davon ausgehen, dass viele deutschsprachige Songs, die es auf Rotation schaffen, sich nicht nachhaltig im Programm halten können", sagt Weber und spricht damit einen weiteren wesentlichen Punkt an – etwas, das im Fachjargon als "Burn" bezeichnet wird. An den Hits, die es irgendwo doch in die Rotation schaffen, hören sich die Menschen schneller satt.
"Aktuell müssen wir leider davon ausgehen, dass viele deutschsprachige Songs, die es auf Rotation schaffen, sich nicht nachhaltig im Programm halten können." FFH-Musikchef Matthias Weber
Weber: "Wir bieten unseren Hörern aber auch weiterhin deutschsprachige Songs an und sie finden auch Gefallen daran, aber wir beobachten immer häufiger, dass sich das bereits nach wenigen Monaten schon wieder ändert – und zwar teilweise so deutlich, dass wir die betreffenden Songs dann auch gar nicht weiterspielen. Das ist bei englischsprachigen Songs oft anders und auch bei deutschsprachiger Musik war das in der Vergangenheit oft anders." Auch bei SWR3 laufen deutschsprachige Pop-Titel, nicht zuletzt auch, weil es Teil des öffentlich-rechtlichen Auftrags sei, Künstlerinnen und Künstler aus Deutschland zu (unter)stützen, wie Gregor Friedel betont. "Für uns ist Deutschpop ein Genre (wie Pop, Rock etc.) und nicht in erster Linie durch 'Sprache' definiert. Und für dieses Genre gelten dieselben Regeln, wie für alle anderen Genres: ist der Titel in unserer Wahrnehmung gut und passt zu unserem Sound, spielen wir ihn."
Ein Blick in die Sparte
Viele Sender verweisen übrigens auf ihre Webradios, die deutlich spitzer aufgestellt sind und unterschiedliche Musikrichtungen bedienen. Insbesondere auf zunehmende Popularität des deutschen Raps hat etwa Tanja Ötvös hingewiesen. "Im Bereich deutschsprachiger Rap/HipHop finden sich viele auch gerade im Streaming Bereich sehr erfolgreiche Künstler wie z.B. Apache 207 oder auch alles rund um die Strassenbande 187. Bei Radio Hamburg spielen wir die zwei Musiksparten zwar nicht, haben aber dafür jeweils einen Streaming-Kanal eingerichtet, um die Hörer abzuholen, die diese Musikrichtungen bei uns vermissen."
Und auch dem klassischen Deutsch-Pop will sie Hoffnung machen. "Der Geschmack der Hörer kann sich ja auch wieder ändern und so sind wir jederzeit bereit, auch deutschsprachige Titel wieder ins Programm zu nehmen", sagt Ötvös zu DWDL.de. Der Trend scheint in näherer Zukunft derweil eher in Richtung Pop-Rock zu gehen. Weber von FFH sagt: "In den letzten Jahren gab es quasi keinen 'AC-tauglichen Pop-Rock'. Das scheint sich aktuell langsam wieder zu ändern und ich hoffe, dass dieser Sound weiter zurück kommt." Auch bei ffn geht man davon aus, dass organischere Sounds in nächster Zeit die dominierende Klangfarbe bei den großen Mainstream-Sendern sein werden. "Nach einer langen Phase mit vielen Dance- und Dancepop-Songs kommen wieder verstärkt rockigere, alternative Sounds auf die Playlist. Auch das Sampling von 80er oder 90er-Jahre-Hits war in den letzten zwei bis drei Jahren verstärkt zu beobachten", erklärt Niklas Gruse.
Zumindest in Bezug auf trendende Musikrichtungen gibt sich Gregor Friedel (SWR3) noch bedeckt. "Tatsächlich haben wir den Eindruck, dass es - vermutlich aufgrund der langen Corona-Zeit – keinen neuen Trend gibt. Es fühlt sich so an, als würden alle auf den Startschuss warten, wenn es wieder richtig los geht." Festgestellt habe er aber, dass es "eine Vielzahl sehr guter Musikerinnen" gibt. Und das sei in einer doch sehr männlich geprägten Musiklandschaft doch eine gute Entwicklung. Die deutsche Pop-Industrie würde sagen: Immerhin eine.