Für Johannes Unger und Rolf Bergmann heißt es in diesen Wochen Abschied nehmen. Ein Projekt loslassen, das sich tief in ihr Herz gebrannt hat: Am Ende sind es 64 Folgen von "Schicksalsjahre einer Stadt", jener RBB-Dokuserie, die ein Standardwerk über die Geschichte der deutschen Hauptstadt ist. 64 Folgen bedeuten über 5.700 Minuten und somit mehr als 100 Stunden Berlin-Geschichte. Programmdirektor Jan Schulte-Kellinghaus nannte die Reihe sogar nicht weniger als ein "dokumentarisches Denkmal". Ab Samstagabend wird das RBB Fernsehen über ein Jahr lang sämtliche Ausgaben um 20:15 Uhr zeigen und dabei mit der neuesten Staffel beginnen. Denn die sechste Runde springt zeitlich nochmal zurück. Geplant war der besonders intensive, teils sehr detailgenaue Blick auf Berlin einst mal in 29 Teilen.

Johannes Unger, der die Idee zur Serie hatte, erinnert sich noch gut, wie das Team ursprünglich die Absicht hatte, nur die Teilung Berlins zu erzählen. "Berlin war Hotspot des Kalten Krieges. Und in der geteilten Stadt spiegelte sich immer die Weltpolitik, aber auch der Alltag der Menschen in dieser Zeit. 'Berlin – Schicksalsjahre einer Stadt: 1961-1989' war außerordentlich erfolgreich. Danach hatten wir das Gefühl, dass das nicht das ganze Bild war. Es gab eine Vorgeschichte und es gab eben auch eine Zeit danach. So sind wir erst in den Jahren weitergegangen, haben die Geschichte nach dem Mauerfall erzählt", sagt Unger zu DWDL.de. Die Geschichte nach dem Mauerfall lief in Staffel vier und fünf, Staffel sechs widmet sich der Zeit ab 1945.

Schicksalsjahre einer Stadt © rbb Erst Kriegsschauplatz, dann Trümmerfeld: Berlin in den 40er Jahren.

Besonders die 50er seien ein wahnsinnig interessantes Jahrzehnt, sagt Rolf Bergmann, der "Schicksalsjahre einer Stadt" für den RBB redaktionell begleitet. "In den 50ern war der Krieg nicht vorbei. Es gibt den Zweiten Weltkrieg, der noch nachwirkt. Die Väter sind teilweise weg, wir haben jüdische Schicksale", erklärt er im Gespräch mit DWDL.de. "Der Krieg ist in die Gegenwart überführt. Der andere Krieg ist der Kalte Krieg, der manifest wird." In den vier neuen Episoden will die Reihe nun unter anderem den Sputnik-Schock behandeln. "Wie sich das aus Sicht der Berlinerinnen und Berliner anfühlt, habe ich so intensiv erzählt in den zurückliegenden Jahren noch in keiner Doku gesehen. Immer manifester in den 50er Jahren wurde zudem auch der System-Gegensatz zwischen Ost und West", sagt Bergmann.

Kritischen Anmerkungen, dass die Nachkriegszeit Berlins in etlichen Formaten, sei es fiktional oder nicht, schon x-fach gezeigt und dargestellt wurde, steht Bergmann derweil gelassen gegenüber. "Schicksalsjahre einer Stadt" sei letztlich ein Blick in die Miniatur – an allen Ecken und Enden würde Neues auftauchen. "Was stimmt", sagt Bergmann, sei, dass "die Nachkriegszeit in Berlin vergangenes Jahr anlässlich 75 Jahre Kriegsende sehr breit erzählt" wurde. Es handele sich dabei aber oftmals um sehr verdichtete Erzählungen. "'Berlin - Schicksalsjahre einer Stadt' geht multiperspektivisch ran, wir haben Protagonistinnen und Protagonisten mit vielen Blickwinkeln. Wir haben Menschen, die in Berlin-Frohnau wohnen und die kleine Frohnau-Geschichte erzählen – etwa ein Dorflehrer, der auf Vergangenheit und Gegenwart blickt. Möglicherweise sind das im Einzelnen schon gehörte Geschichten, zusammen aber ergeben sie ein neues Bild über das Berlin der 50er Jahre. Die 50er-Jahre sind zudem ein ziemlich vergessenes Jahrzehnt. Als Geschichtsredakteur blickt man tatsächlich stark auf die Zeit zwischen 1945 und 1948 und deutlich weniger in die 50er Jahre." Das habe Gründe: Das Material, das man benötige sei kein Fernsehmaterial, sondern Kinomaterial und entsprechend teuer. Also werde über die 50er Jahre in aller Regel in Kurzform erzählt. Die RBB-Doku würde sich unterdessen Zeit nehmen. Die Abschlussstaffel umfasst immerhin 360 Minuten.

Frauen präsentieren die Geschichte

Neues und Anderes zu erzählen, das sei ohnehin nie das Leitmotiv des Formats gewesen. "Wir wollten, dass sich normale Menschen in der großen Geschichte wiederfinden. Die kleinen Alltagsbeobachtungen werden kombiniert mit der großen Geschichte. Es geht beispielweise um das erste Rendezvous in Steglitz, anrührend erzählt von einer Ur-Berlinerin", sagt Johannes Unger. Kommentiert werden alle Bilder von bekannten Frauen. Bisher schon waren die Stimmen von Katharina Thalbach, Katja Riemann, Katrin Sass, Anna Thalbach und Jasmin Tabatabei zu hören – sie würden "Schicksalsjahre einer Stadt" zusätzlich adeln, findet Ideengeber Unger. Die 50er Jahre nun spricht Schauspielerin Corinna Harfouch. Dass die Wahl in diesem Punkt ausschließlich auf Frauen fiel, ist eine bewusste Entscheidung der Macher: "Weil die Geschichte männerdominiert ist. Bei den Zeitzeugen achten wir darauf, dass Männer und Frauen berichten", erklärt Unger.

 

"Mit Corona haben wir welthistorisch eine Zensur dramatischen Ausmaßes – und somit auch für Berlin. Die Zeit  von Berlin als Experimentierfeld, von Berlin als offener Weltstadt, das wird abebben." Johannes Unger

 

Mit der neuen Staffel soll die Reihe nun zu Ende gehen. "Die Geschichte ist jetzt rund", glaubt Unger. "Mit Corona haben wir welthistorisch eine Zensur dramatischen Ausmaßes – und somit auch für Berlin. Die Zeit  von Berlin als Experimentierfeld, von Berlin als offener Weltstadt, das wird abebben. Das ist nicht mehr wichtig. Die Stadt ist als Lebensraum nicht mehr so attraktiv. Dass jüngere Leute, um sich auszuleben, unbedingt nach Berlin wollen, ist mit einem dicken Fragezeichen versehen. Die Stimmung in Berlin und die Wirkung der Stadt international ändert sich", glaubt er. Eine Zeit vor 1945 zu erzählen, würde sich zudem als schwierig gestalten. Das verfügbare Bildmaterial sei hier begrenzt. Zustimmung kommt aus der RBB-Redaktion: "Das Rückgrat der Reihe sind letztlich auch die Erzählungen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Sie müssen auch in einem Alter der Wahrnehmung gewesen sein", sagt Rolf Bergmann. "Wir spüren schon jetzt in der Zeit 1945 bis 1949, dass wir in erster Linie Kindererzählungen haben. So wäre es schwer, den Zweiten Weltkrieg zu erzählen. Eine Verlängerung dieser Reihe in die Frühgeschichte mag attraktiv klingen, aber es wäre ein anderes konzeptionelles Arbeiten und daher lassen wir das."

So heißt es nun also Abschied nehmen von einer Reihe, die auf 29 Folgen angelegt war, nun aber mehr als doppelt so viele umfasst. Alle werden in chronologischer Reihenfolge und somit rund ein Jahr lang samstags zur besten Sendezeit im rbb (nochmals) gezeigt. Kein einfacher Sendeplatz, ist man sich beim RBB bewusst. Aber alle Staffeln hätten dort bestanden und Quoten oberhalb des Senderschnitts geholt. "Wir haben ein festes Publikum jenseits der sechs Prozent, das ist ein Erfolg", sagt Johannes Unger nicht ohne Stolz.

Die 90er taten sich schwer

Der anfänglichen Anspannung, ob "Schicksalsjahre einer Stadt" überhaupt funktioniere, folgten zuletzt eher Fragen nach dem Abschneiden der einzelnen Jahrzehnte. "Am schwersten taten sich in der Tat die 90er-Jahre, das graue Jahrzehnt", wie Bergmann sagt. "Dafür gibt es auch Erklärungen. Da ist vieles zusammengekommen. Es gab eine Unausgewogenheit zwischen West und Ost. Es gab viele Berichterstattungen aus dem Westen über den Osten, weil der SFB den Osten damals mit fremdem Blick angeschaut hat und der Osten selbst hat sich gar nicht mehr angeschaut." Am erfolgreichsten liefen die 60er und 70er Jahre, danach kamen die 2000er.



Bleibt zum Abschluss nur eine Frage: War der Titel, der sich ein Stück weit an die bekannten "Sisi"-Filme anlehnt, mitunter für Verwunderung gut? Nur anfangs sei er öfter auf den Titel angesprochen worden, sagt Unger mit einem Lachen – und stellt klar, ein absoluter Verfechter dessen zu sein. "Wenn es eine Stadt gibt, die weltpolitische Krisen so unmittelbar zu spüren bekommt, dann ist es Berlin. Wir machen eine Serie, die sich an ein breites Publikum richtet – wir machen kein abgehobenes, intellektuelles Programm. Die Zuschauerinnen und Zuschauer sollen sich wiederfinden in dem Format, da ist der Titel absolut passend", findet Unger und ergänzt: "Die Reihe zeigt es doch: Wir zeigen, wie sich der Magistrat zerstreitet. Im Zuge des Kalten Krieges beschließen SPD und die Liberalen aus dem Ost-Magistrat auszutreten und marschieren zusammen in den britischen Sektor. Diese Geschichte hatten die Menschen vielleicht mal gehört, hier können sie unmittelbar erleben, wie der Kalte Krieg Einfluss auf die Stadt genommen hat."

Dass das Projekt nach der Erstausstrahlung nun vorbei ist und irgendwie auch nicht, passt zu seiner eigenen Historie. Vielleicht geht es ja doch noch weiter. Irgendwann. Ein bisschen, meint Rolf Bergmann, jucke es ja schon in den Fingern. Vielleicht könne man in zehn Jahren darüber nachdenken, ob diese 20er Jahre nicht doch mehr zu bieten hatten als ihren Startpunkt mit Corona.

Das RBB Fernsehen zeigt "Schicksalsjahre einer Stadt", beginnend mit vier neuen Folgen, immer samstags um 20:15 Uhr.