Marcel Reif © Sky Marcel Reif
Wenn Marcel Reif heute auf seine Karriere als Fußballreporter zurückblickt, dann kann er aus einem Quell von Erfahrungen und Erlebnissen schöpfen. Live-Kommentator der Weltmeisterschaften 2002, 2006 und 2010. Eine zweistellige Zahl von Champions-League-Endspielen und großen Bundesliga-Matches. Allianz Arena, Giuseppe-Meazza-Stadion, Estadio Santiago Bernabéu, Old Trafford – all die großen Stadien kennt Reif. "Für meinen Kommentar brauche ich den Blick auf das große Ganze. Ich muss die Atmosphäre vor Ort spüren. Ich habe einmal sogar darum gebeten, dass eine Plexiglasscheibe abmontiert wird, hinter der ich hätte arbeiten sollen - weit vor Corona natürlich."

Was früher für eher weniger Staunen sorgte, wäre heute wohl undenkbar. "Für mich war es immer alternativlos, Fußballspiele live vor Ort zu kommentieren. Entweder so, oder gar nicht. Das hatte ich mir auch stets in all meinen Verträgen verankern lassen", sagt Reif. Nur vor einem Fernsehbildschirm sitzend, würde er schließlich als Kommentator nichts anderes sehen als der Fan daheim. "Ich zumindest kann dann keinen großen Mehrwert liefern."

 

"Für mich war es immer alternativlos, Fußballspiele live vor Ort zu kommentieren". Marcel Reif

 

Doch die Lage in der Branche hat sich gewandelt - Kommentieren auf Abstand ist inzwischen immer häufiger die Aufgabe von Sportreportern. Die Situation wurde zwar durch Reise- und Hygienebeschränkungen in Zusammenhang mit Covid-19 nochmals verschärft, der Trend mehr und mehr Sportevents aus weit entfernten Studios oder kleinen Kommentatorenboxen begleiten zu lassen, war jedoch schon seit Jahren erkennbar. Produktionskosten von Sport-Übertragungen werden hinter vorgehaltener Hand auf einen fünfstelligen Betrag beziffert, wobei die Range groß sein kann und grundsätzlich nach oben kein Limit gesetzt ist. Während die Abnahme des (zumeist vom Rechtegeber gestellten Weltbildes) unabdingbar ist, sind es gerade Reise- und Personalkosten sowie der technische Aufwand, der flexible Größen im Produktionsbudget darstellt.

Michael Bracher © DAZN Michael Bracher
Wer also den redaktionellen Aufwand eher niedrig hält, kann auf Monate und Jahre gesehen ordentlich sparen. Michael Bracher ist seit 2016 Chefredakteur vom Streamingdienst DAZN – jener Plattform, die von Spitzenfußball aus Bundesliga und Champions League bis hin zu Rugby und Feldhockey eine enorme Bandbreite abdeckt. "Bei unserem riesigen Umfang an Live-Events im Vergleich zu anderen Broadcastern, müssen wir uns entscheiden, welche Events so wertig sind, dass man sie direkt vor Ort begleiten muss und welche Events man auch aus unserer Regie in München herausragend produzieren kann", sagt Bracher.

Einen direkten Zusammenhang zwischen den sich im zurückliegenden eineinhalb Jahrzehnten rasant entwickelnden Sportrechtepreisen speziell im Spitzenfußball (die Preissteigerung liegt bei etwa 300%) will Bracher nicht bestätigen. Wann immer DAZN ein Recht erwerbe, gäbe es Überlegungen, welcher Content drum herum produziert werden solle und welches Budget dafür nötig sei. Uli Hebel gehört, ebenfalls seit 2016, zu DAZN’s Spitzenpersonal am Mikrofon und dennoch hat der Kommentator eine überwiegende Anzahl an Fußballspielen aus der Münchner DAZN-Zentrale kommentiert – und eben nicht im Stadion.

Geheimwaffe Taxifahrer

Dennoch sagt der 31-Jährige: "Es hat fast ausschließlich Vorteile, als Reporter vor Ort zu sein. Als Fußballfan genießt man natürlich die Atmosphäre. Wenn ich an die Zuschauerin und den Zuschauer denke, dann spielt das eine unwesentlichere Rolle – die Atmosphäre im Stadion sauge ich auch über Kopfhörer auf. Wenn ich aber vor Ort bin, habe ich die Möglichkeit, mal in diese Stadt reinzuhören", sagt Hebel. Dabei greift er auf einen Geheimtipp unter Sportreportern zurück. "Taxifahrer, das wissen auch viele meiner Kollegen und Kolleginnen, sind prima Gesprächspartner. Über sie kann man aufsaugen, was gerade in einer Stadt vorgeht." Hinzu kommt, ganz logisch, dass ein vor Ort agierender Journalist sein Netzwerk viel eher vergrößern könne. "Mal mit Protagonisten zu sprechen, vielleicht mit dem Schiedsrichter, das geht von München aus nicht. Ich kann zwar telefonieren, aber das ist nicht das gleiche."

Uli Hebel © DAZN Uli Hebel
Die Sportligen befinden sich unterdessen in einem Spannungsfeld. Da ist das Interesse nach hochwertiger Darstellung im TV genauso groß wie gute Abbildung der eigenen Sponsoren (hier kommen die vor und nach dem Spiel hinter den Protagonisten aufgestellten Sponsorenwände ins Spiel) und muss abgewogen werden mit dem Wunsch, ganz grundsätzlich immer mehr Euros über die reinen TV-Rechte zu erlösen.

Doch ist ein nicht direkt aus dem Stadion begleitetes Spiel schlechter dargeboten? Für Reif ist die Sache klar. "In jedem Fall wird dadurch der Blick auf das Geschehen verengt", sagt der ehemalige Sky-Mann. Hebel sieht es etwas differenzierter. Einerseits sagt er: "Im Stadion bekommt man von den Begebenheiten einfach viel mehr mit. Ich hatte mal eine Situation, da wurde über das Weltbild nicht klar, dass der Schiedsrichter ein Tor zurückgenommen hat. Das wurde erst über eine Minute später sichtbar. Da wirkt man als Kommentator wie der letzte Depp. Es lässt sich vor Ort schlicht mehr transportieren."

Andererseits will Hebel aber nicht so weit gehen und sagen, dass ein Kommentar aus der Box per se schlechter sei. "Größter Vorteil des Arbeitens aus unserer Redaktion in München ist die Technik. Ich weiß einfach, dass alles passt. Die Kameras funktionieren, die Verbindung zum Experten auch. Der Toncheck dauert vielleicht zwei Minuten, danach kann ich mir noch einen Kaffee zapfen, ohne dass ich mit dem Aufzug vier Stockwerke nach unten muss und mich vielleicht noch verlaufe." Für Hebel als Familienvater komme schließlich noch der Vorteil hinzu, abends daheim noch seine kleine Tochter zu sehen und schließlich im eigenen Bett zu schlafen. Ganz fernab vom Schuss sei man zudem auch von der Redaktion aus nicht - der Kontakt mit den World-Feed-Herstellern stehe in jedem Fall.

 

"Eventuell, wenn man den Zuschauer fragen würde, ist das Seherlebnis aus der Regie sogar ein besseres, da er so das pure Stadionerlebnis hat." Michael Bracher, Chefredakteur von DAZN in der DACH-Region

 

Die Frage nach umfangreichen Vor-Ort-Berichten zur Philosophiefrage deuten will derweil Chefredakteur Bracher. Was nun endgültig besser sei, sei zudem für die Allgemeinheit nicht zu beantworten. "Wer mit Personal im Stadion ist, muss dieses Personal auch viel im Bild haben. Damit es sich lohnt, muss das Personal auch viel sprechen. Eventuell, wenn man den Zuschauer fragen würde, ist das Seherlebnis aus der Regie sogar ein besseres, da er so das pure Stadionerlebnis hat." Entsprechend also sei eine große Crew im Stadion nicht gleichbedeutend mit dem besten TV-Erlebnis. "Wenn wir, bei internationalen Fußballspielen, aus unserer Regie heraus arbeiten, bedeutet das für den Zuschauer trotzdem, dass er die komplette Übertragung über im Stadion ist. Er sieht immer Stadionbilder – ohne sich Kommentator und Experte anschauen 'zu müssen'", erklärt Bracher.

Nähe, Emotionen, Reaktionen

Alexander Dechant © Magenta Sport Alexander Dechant
Andere Anbieter, andere Philosophie, andere Ausgangslage: Die Holzkirchener Firma thinxpool setzt für die Deutsche Telekom und deren Angebot MagentaSport und MagentaTV die Sportübertragungen um. Neben der Fußball-EM beschäftigt sie sich das Jahr über hauptsächlich mit Eishockey, Basketball und der dritten Fußballliga – also Ligen, in denen weit weniger Geld in den TV-Töpfen landet. "Wir produzieren seit fast einem Jahr unter strengen Hygiene- und Sicherheitsauflagen, die eine Produktion auch in Pandemie-Zeiten vor Ort zulassen. Mit der Telekom wissen wir einen Partner an unserer Seite, der diesen Mehraufwand forciert und unterstützt", sagt thinxpool-Content-Leiter Alexander Dechant und spricht in dem Zusammenhang von einem Qualitätsstandard, den man den MagentaSport-Kunden bieten wolle. Das sei gerade in diesen Zeiten nicht einfach. "Mit der einen oder anderen Umstellung wie dem Sicherheitsabstand bei Interviews oder Masken beim Kommentieren, die wir akzeptieren. Aber wir transportieren so immer noch besser Nähe, Emotionen und Reaktionen über unsere Kanäle."

MagentaSport ist da freilich eine Ausnahme. Eine echte Trendumkehr zeichnet sich auch nach Corona nicht ab. Taxifahrer in den internationalen Metropolen werden deutsche Kommentatoren weiterhin seltener als früher zu ihren Gästen zählen dürfen. Marcel Reif ist kein Freund davon, Reporter aus den Arenen fernzuhalten. "Ich finde diese Entwicklung nicht gut. Die Gründe dafür haben sich mir auch nie erschlossen." Ob es wirklich nur an den fehlenden finanziellen Mitteln liege, könne er derweil schwer beurteilen. Er gibt aber zu bedenken: "Auch zu meiner Zeit musste auf Kosten geschaut werden. Premiere war da ja schon auf dem Weg zum Insolvenzrichter. Vielleicht herrscht in den Redaktionen schlicht die Meinung, es reiche doch auch so." Auch das wäre bedenklich.

Sportjournalismus im Jahr 2021

  • Fußball Europameisterschaft und Olympia. Der Sommer 2021 hält gleich zwei Sport-Großevents bereit. Aus diesem Anlass befasst sich DWDL.de in den kommenden Wochen mit weiteren Facetten des Sportjournalismus im Jahr 2021.