Der ARD-Vorsitzende Tom Buhrow hat Volker Herres im Herbst vergangenen Jahres die "Verkörperung unseres Gemeinschaftsprogramms" genannt. Genau genommen, war damit keine persönliche Leistungsbewertung gemeint, sondern eher ein generelles Anforderungsprofil jener Person, die das Amt des Programmdirektors oder der Programmdirektorin ausübt. Wer freilich über so robustes Sendungsbewusstsein verfügt wie Herres, dürfte kein Problem damit haben, das weihevolle Intendanten-Wording auf sich zu beziehen. Nach stolzen zwölfeinhalb Jahren an der Spitze des Ersten hinterlässt der Norddeutsche in München so viele Spuren, dass man sich fragen muss, ob das Gemeinschaftsprogramm nicht längst eine Verkörperung Herres' ist.

Zu quotenfixiert, zu mainstreamig, zu weichgespült – solche Vorwürfe hat Herres mit schöner Regelmäßigkeit für seine Programmpolitik kassiert und in aller Regel an sich abprallen lassen. "Programm ausschließlich für Eliten ist nicht unser Auftrag" und das Erste sei "kein Experimentallabor", entgegnete er schon vor zehn Jahren der wachsenden Kritik an Innovationsarmut. Damals erwies er sich als treuer Pfleger des Erbes seines Vorgängers Günter Struve, dem seinerseits eine fortschreitende Verflachung des öffentlich-rechtlichen Flaggschiffs vorgehalten worden war. 

Man sollte sich in diesem Zusammenhang vor Augen führen, dass das Erste Deutsche Fernsehen über die letzten 43 Jahre weniger Programmdirektoren hatte als Deutschland Bundeskanzler: Von 1978 bis 1992 regierte Dietrich Schwarzkopf, von 1992 bis 2008 Struve und seit 2008 Herres, der damit "nur" die drittlängste Amtszeit hatte. Schwarzkopf holte den "Scheibenwischer", die "Lindenstraße" und den "Presseclub" ins Erste, Struve die "Feste der Volksmusik", "In aller Freundschaft" und "Rote Rosen", Herres führte "Hirschhausens Quiz des Menschen", "Wer weiß denn sowas?" und den wöchentlichen Irland-Island-Kroatien-Lissabon-Zürich-Krimi ein. Der Griff zum Populären konnte der allgemeinen Fragmentierung und dem erstarkenden ZDF kaum entgegenwirken: Herres übernahm bei 13,4 Prozent Marktanteil, schloss 2020 mit 11,3 Prozent ab, während die 'Frenemies' aus Mainz im selben Zeitraum um einen halben Prozentpunkt auf 13,6 Pozent zulegten.

ARD-Programmdirektoren © ARD/NDR/WDR/T. Jander/B. Knabe Drei Programmdirektoren in 43 Jahren: Volker Herres folgte auf Günter Struve und Dietrich Schwarzkopf (v.r.)

Doch würde man Herres nicht gerecht, wenn man nur auf dieser Betrachtungsebene bliebe. Oft war zu lesen, er sei der mächtigste Mann im komplizierten ARD-Gefüge. Klar, wenn neun selbstbewusste Regionalfürstentümer ein Gemeinschaftsprogramm veranstalten und dafür einen zentralen Lenker einsetzen, dann erwächst dessen Macht allein schon aus der Kakofonie der neun divergierenden Interessen und Eitelkeiten. Wer Herres dabei zusah, wie er die Intendanten einerseits, wo nötig, hofierte, andererseits jeden Hauch eines Vakuums sogleich mit seinen eigenen Entscheidungen füllte, konnte in der Meisterklasse lernen. Dass die Taktik mitunter aus der Kulisse hervorgezerrt wurde – wie etwa im Frühjahr 2020, als Herres die von den Intendanten gewollte Verlängerung der "Tagesthemen" um fünf Minuten zwar unter Hinweis auf die Quoten der nachfolgenden Sendungen verzögern, aber am Ende nicht verhindern konnte –, focht den geübten Moderator nicht sichtlich an. 

Und doch ist das mit der Macht des Programmdirektors so eine Sache, wie sich gerade am Narrativ von Herres' Quotenfixierung zeigt. Kaum ein ARD-Intendant hat in den vergangenen zwölfeinhalb Jahren auf gelegentliche Sonntagsreden verzichtet, in denen Relevanz und Anspruch beschworen, übertriebene Quotenhörigkeit verteufelt wurde. Sobald jedoch am nächsten Tag die Primetime-Performance des Ersten durchhing, griffen einige von ihnen zum Hörer, um Herres zu ermahnen.

"Ich möchte den richtigen Moment zwischen zu früh und zu spät erwischen. Und den sehe ich dann gekommen"
Volker Herres im September 2020 über seinen vorzeitigen Ausstieg

Nach Abzug einer Mindestdosis Scheinheiligkeit wusste dieser somit stets, dass seine Maßnahmen zur Marktanteilsoptimierung kollektiv erwünscht waren. Und dass er hin und wieder einfach den Sündenbock zu geben hatte. Zuletzt im Januar beim Sturm aufs Washingtoner Kapitol, als die Nachrichtenmacher von ARD-aktuell wohl gern früher auf Sendung gegangen wären und via "Spiegel" den "Flaschenhals" in München verorteten. Solche Schienbeintritte waren beim atemberaubenden Alpenblick aus dem Programmdirektorenbüro im 15. Stock des BR-Hochhauses eben eingepreist.

Zu den wichtigsten und sichtbarsten Programmleistungen des im NDR groß gewordenen TV-Managers zählen jene Großprojekte, die das gewohnte Schema des Ersten aufbrachen und im besten Sinne zum 'Talk of the Town' wurden, auch weil sie mehrfach wegweisend für die neue, horizontal erzählte, als Ereignis konstruierte Serie standen: Mit kräftigem Rückenwind vor allem von der Degeto und vom MDR profilierte Herres sich als Mit-Ermöglicher von "Weissensee", "Charité" oder "Babylon Berlin". Bemerkenswert ist das auch deshalb, weil der langjährige Politjournalist im Lauf der Zeit ein recht umfassendes Fiction-Verständnis erwarb.

Volker Herres, Presseclub © WDR/Herby Sachs Geht nicht so ganz: Volker Herres darf weiter den "Presseclub" moderieren und die ARD beraten
"Ich möchte den richtigen Moment zwischen zu früh und zu spät erwischen", begründete Herres, warum er nun ein halbes Jahr vor Vertragsende aussteigt. Einen besonderen Sinn für Timing konnte man ihm noch nie absprechen. Da ist zum einen die immer wichtiger werdende Mediathek, deren Stellenwert das lineare Erste irgendwann überholen wird. Die letzten 16 Monate seiner Regentschaft hatte Herres mit Florian Hager erstmals einen stellvertretenden Programmdirektor mit Verantwortung für die Mediathek an seiner Seite.

Den nötigen Struktur- und Generationswechsel hat er lange genug mit vorbereitet, dem schleichenden Bedeutungsverlust muss er nicht weiter beiwohnen. So erspart sich der 63-Jährige auch den Zwang, mehr Umsicht bei frei von der Leber weg geäußerten Ansichten über Frauen im TV walten zu lassen. Dass er in der Unterhaltung gerne mehr Frauen sehen würde, ihm aber kein weibliches Pendant zu Kai Pflaume einfiel, brachte Herres voriges Jahr Häme im eigenen Programm von Carolin Kebekus, Stilkritik von Tom Buhrow ("Das war wahrscheinlich kein Punktgewinn") sowie den Goldenen Günter von DWDL.de ein.