Wer später irgendwann einmal auf Deutschland im Jahr 2021 zurückblickt, wird vielleicht von einer Renaissance des kollektiven Fernwehs sprechen. Mangels touristischer Übernachtungsmöglichkeiten ist all denen, die südlich des Weißwurstäquators leben, Erholung an der Küste verwehrt, genauso wie Nordlichter nicht mal eben in den Allgäuer Alpen urlauben können. Gestillt wird die Sehnsucht nach der Ferne, so könnte man zumindest meinen, vom heimischen Sofa aus. Doch nicht etwa Reisedokus boomen in diesen Wochen, sondern Krimis vor malerischer Kulisse.

Immer öfter ist in der Branche der Begriff Crime & Nature zu hören – ein Subgenre der klassischen Kriminalfilme. Jutta Lieck-Klenke, Produzentin bei Network Movie und somit verantwortlich für die ZDF-Reihe "Nord Nord Mord", sagt: "Sylt mit seinen wunderschönen Stränden und Dünen ist bei unserer Reihe 'Nord Nord Mord' gewissermaßen einer der Hauptdarsteller. Die Insel kommt bei den Zuschauern sehr gut an, stillt die Sehnsucht nach Urlaub, Meer und Sonne, sicher gerade auch in Zeiten von Corona."

Die Folge: Reichweiten-Rekorde im noch vergleichsweise jungen Jahr 2021. Als die Episode "Sievers und der schönste Tag" Mitte März im ZDF lief, saßen 9,9 Millionen Menschen vor den TV-Geräten – der bisherige Zuschauer-Bestwert wurde um mehr als eine Million überboten. Ähnliches ließ sich schon im Januar feststellen, als Das Erste drei frische Folgen von "Nord bei Nordwest" zeigte. Jede einzelne davon lief erfolgreicher als die bisherigen. Aufgestellt wurde ebenfalls ein neuer Rekord – mit sogar 10,1 Millionen Zuschauern an einem Donnerstagabend. Ein Wert, der noch über der Reichweite der meisten "Tatort"-Folgen liegt.

Es gelte: Das Meer, die Küste, die Landschaft würde – freilich neben den Hauptdarstellern – die vierte Hauptrolle spielen, bestätigt Produzentin Claudia Schröder von der Aspekt Telefilm-Produktion GmbH im Gespräch mit DWDL.de. "Darüber hinaus bestimmt die Landschaft, und das ist ganz wichtig, auch die Menschen, die dort leben. Das Meer, die Weite, das Gefühl von Entspannung sind sicherlich für die Zuschauer einige der Gründe, sich die Filme anzusehen", sagt Schröder.

Nie zu brutal, nie zu gewalttätig

Beide Reihen von ARD und ZDF sind trotz des Krimi-Genres Wohlfühlfernsehen im besten Sinne. Neben einem ernsthaften Fall, der in den 90 Minuten jeweils zu lösen sei und der nie brutal oder gar gewalttätig sei, setzt "Nord Nord Mord" auf "wunderschöne Natur, die einen besonderen Schauwert hat" – und auf Humor. Gut gelaunte TV-Kommissare als eine Art Reiseleitung? Das funktioniert freilich auch an anderen idyllischen Fleckchen der Bundesrepublik, wie bis zu sechs Millionen Zuschauer für die "Rosenheim-Cops" am ZDF-Vorabend zeigen. 

Nichts desto trotz, allein Sehnsuchtsgefühle wollen die Produzenten für den Erfolg ihrer Krimis freilich nicht verantwortlich machen. "Vielleicht ist es mehr die Ruhe, der Humor, das Gefühl, auf glaubhafte, authentische Charaktere zu treffen, das den Erfolg von 'Nord bei Nordwest' ausmacht", überlegt Schröder. Ihre Kollegin Jutta Lieck-Klenke beschreibt die Besetzung von "Nord Nord Mord" mit Peter H. Brix, der ohne jede Spur von rückläufigen Zuschauerzahlen Robert Atzorn abgelöst hat, an der Spitze als "Glücksfall". Figur Sievers stehe eben für das spröde, trockene, wortkarge Norddeutsche, sagt sie. Oder anders gesagt: Für den Menschenschlag, den Bürger fernab der Küste sonst eben hauptsächlich im Urlaub treffen.

Nord Nord Mord © ZDF / Georges Pauly Die vier Hauptdarsteller von "Nord Nord Mord": Ina Behrendsen (Julia Brendler), Carl Sievers (Peter Heinrich Brix), Hinnerk Feldmann (Oliver Wnuk) und das Meer (gespielt vom Meer)


Um genau dies in den Kriminalfällen ausreichend darzustellen, nehmen die Produzenten das bestens bekannte Schiet-Wetter im Norden gerne in Kauf. Abwechslungsreich nennt Lieck-Klenke die Bedingungen auf Sylt. "Das Team hat sich daran gewöhnt und es ist sehr wetterfest. Es gibt häufiger auch mal Sturm zu allen Jahreszeiten", sagt sie und erinnert sich an Drehtage, an denen der Bahndamm für Züge gesperrt war und man "nicht mehr rauf oder runter kommt" von der Insel. Ganze Drehs seien schon von außen nach innen verlegt worden, berichtet Lieck-Klenke und scherzt: "Spätestens, wenn ein Fahrrad am Garderobenhaus vorbeifliegt, stoppt der Dreh."

In der Tat sei der Wind in Norddeutschland und speziell auf den Inseln nicht nur eine Herausforderung für das Team, sondern auch für die Technik – "es darf ja kein Sand in die Kameras kommen", berichtet Lieck-Klenke. Obendrein müsse man noch auf ein weiteres beeinflussendes Element achten, das indirekt direkt mit dem Wetter zu tun hat – zumindest in normalen Jahren: Touristen. "Wir drehen möglichst nur im Frühjahr und Herbst, weil es im Sommer an der Ostsee so voll ist, dass wir die 'unberührte' Natur gar nicht zeigen können. Ein schöner Schwenk über den 'einsamen' Strand ist nur außerhalb der Saison herzustellen", sagt Schröder über die Produktion ihres ARD-Krimis. Speziell im Herbst und Frühling seien die Stimmungen besonders schön.



Und weil der Schweif in die Ferne auf dem heimischen Sofa eben oftmals ein wohliges Gefühl auslöst, dürfte der geneigte Zuschauer so glücksbesoffen sein, dass gar nicht mehr auffällt, dass einige der populärsten Krimireihen dieses Landes auf total schwachsinnige Titel setzen. Während "Nord bei Nordwest" eine recht sinnbefreite, weil auch in sich unlogische Anlehnung an den 1959 erschienen Hitchcock-Thriller „North by Northwest“ (deutscher Titel: „Der unsichtbare Dritte“) ist, dürfte "Nord Nord Mord" der plumpe Versuch sein, die Worte "Nord" und "Mord" irgendwie in einen Titel zu packen. Geschadet hat’s nicht – das Meer heilt eben nicht nur Wunden, sondern offenbar auch miese Titel.