TV-Sender lieben hohe Zahlen, wenn es um die Darstellung ihrer Reichweiten geht. 4,41 Millionen "Sichtungen" in der Mediathek vermeldete das ZDF Ende März nicht ohne Stolz allein für die ersten fünf Tage, in denen der Dreiteiler "Ku'damm 63" dort verfügbar war. Kurz zuvor hatte die ARD für ihre achtteilige Miniserie "Die Toten von Marnow" 9,1 Millionen "Zugriffe" innerhalb von zwölf Tagen gezählt. Nicht immer, aber immer öfter weisen die Sender auch eine Art Gesamtreichweite aus, die sich aus der durchschnittlichen Zuschauerzahl im linearen TV und den Online-Abrufen ergibt. So hieß es beim ZDF, "Ku'damm 63" habe "insgesamt im Schnitt pro Teil 6,14 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer über die Ausspielwege TV und Mediathek" erreicht.
Der Umgang mit den Zahlen – vor allem deren direkte Vergleichbarkeit – wirft Fragen auf. In manch stolzer Äußerung von Programmverantwortlichen werden mitunter Äpfel und Birnen addiert, damit die Resultate eindrucksvoller klingen. Einer, der lieber einordnet als protzt, ist dagegen Camille Zubayr, Leiter der ARD-Medienforschung. "Aufgrund der verschiedenen Panels sind wir bisher nicht in der Lage, die Nutzung von Mediathek und linearem TV personenidentisch zu messen", erläutert Zubayr im Gespräch mit dem Medienmagazin DWDL.de. "Wir können aber struktur- und verhaltensähnliche Personen zwischen den Panels von GfK und Nielsen fusionieren und uns so einer Nettoreichweite annähern."
Die Betonung liegt auf "ähnlich" und "annähern" – solche einschränkenden Details sind in Jubelmeldungen nicht unbedingt willkommen. Schon vor einem Jahr hatte DWDL.de das zunehmende Wettrennen um die vermeintlich höheren Reichweiten aufgegriffen, damals mit Blick auf die großen Privatsender, die für ihre linearen TV-Ausstrahlungen gern mal die Nettoreichweite anstelle der durchschnittlichen Sehbeteiligung ausweisen, um den weicheren, selektiven Abrufzahlen von YouTube oder Netflix wenigstens ein bisschen näher zu kommen. Während die Privaten mit konkreten Zahlen für ihre Streaming-Plattformen eher schmallippig umgehen, gibt es bei den Öffentlich-Rechtlichen immer weniger Sendungen, deren Mediathek-Performance nicht früher oder später zur Sprache kommt.
Auf einheitliche Begriffe hat man sich dabei noch nicht geeinigt. Das ZDF operiert meist mit "Sichtungen", die ARD mit "Abrufen", wenn es darum geht, wie oft ein Video gesehen wurde. Hinter beidem steckt das, was die AGF Videoforschung offiziell "Streamview" nennt: Sobald ein Videostart ausgelöst wurde, geht dieser in die Zählung ein – völlig unabhängig davon, ob der Nutzer nach wenigen Sekunden abbricht oder bis zum Ende der Sendung dranbleibt. Das ist ein massiver Unterschied zur Währung "Sehbeteiligung" des klassischen Fernsehens, die Reichweite stets ins Verhältnis zur durchschnittlichen Nutzungsdauer setzt.
Dabei kommt es zu der von ARD-Forscher Zubayr erwähnten Fusionierung zwischen zwei Panels, einem mathematisch komplexen Vorgang. Die TV-Daten entstammen dem von der GfK betriebenen AGF-Panel mit rund 5.400 täglich berichtenden, repräsentativ ausgewählten Haushalten, in denen über 11.000 Personen leben. Das Videostreaming wiederum misst die AGF in Zusammenarbeit mit Nielsen in einem hybriden Modell aus Panelmessung und Vollerhebung: Zum Desktop-Panel mit 15.000 monatlich aktiven Teilnehmern und dem Mobile-Panel mit 6.300 monatlich aktiven Panelisten kommt eine Zensusmessung über Messcodes, die in die Videoplayer der teilnehmenden Anbieter implementiert sind. "Um internetbasierte Videonutzung genauso exakt und granular abbilden zu können wie lineares TV im GfK-Panel, wäre ein Panel mit mindestens 100.000 Teilnehmern notwendig", so Zubayr. Solche Größenordnungen sind im Alltag der Medienforschung weder realistisch noch finanzierbar.
"Wenn wir eine Million Abrufe messen, liegt die Sehbeteiligung bei fiktionalen Stoffen in aller Regel zwischen 700.000 und 800.000"
Camille Zubayr, Leiter der ARD-Medienforschung
Aus den gemessenen Daten lässt sich freilich auch für die Mediatheken eine Sehbeteiligung errechnen, die wie beim linearen TV die durchschnittliche Verweildauer einbezieht und damit die eher vergleichbare Währung wäre. Das Problem ist nur: Die Ausweisung durch die AGF erfolgt wegen des aufwendigen statistischen Verfahrens mit einem zeitlichen Versatz von acht Tagen. So lange will kaum jemand mit der Verkündung seiner Erfolge warten, wenn die simple Zahl der Abrufe (oder Sichtungen) doch schon am nächsten Morgen vorliegt. Das führt dazu, dass die nonlineare Sehbeteiligung in der Kommunikation bislang keine große Rolle spielt.
Immerhin lassen sich die Reichweiten der Mediatheken bei allen noch vorhandenen Defiziten nun einigermaßen detailliert einschätzen. Regelrecht blind sind deren Verantwortliche jedoch gegenüber den internationalen Streamern, mit denen sie de facto um Nutzer konkurrieren und die das allgemeine Streben nach hohen Zahlen durch ihre intransparente Reichweitenkommunikation erst angefacht haben. "Wenn es um die Vergleichbarkeit mit anderen Streaming-Plattformen außerhalb des AGF-Systems geht, herrscht zurzeit noch die Verwirrung der Pionierzeit", findet Zubayr. "Um grundsätzlich Stellenwert und Größenordnung mit Dritten zu vergleichen, greifen wir auf Umfragen mit sehr hohen Fallzahlen zurück, wie wir sie etwa für die ARD/ZDF-Langzeitstudie Massenkommunikation durchführen."
"Wir freuen uns sehr, dass wir bald auch die Nutzung des ZDF-Livestreams auf Joyn dem ZDF-Leistungswert zuschlagen können"
Florian Kumb, Leiter der ZDF-Programmplanung
Das ZDF sei dafür, dass sich neue Anbieter an einem einheitlichen, offenen Messstandard beteiligen, gibt Kumb zu Protokoll. Die Möglichkeit, transparente Marktvergleiche anstellen zu können, halte man für elementar. "Wir freuen uns zum Beispiel sehr, dass wir bald auch die Nutzung des ZDF-Livestreams auf Joyn dem ZDF-Leistungswert zuschlagen können", so Kumb. "Zudem hat die AGF ja auch einige vielversprechende Ansätze wie das AGF-Smartmeter in der Pipeline, um den Messumfang deutlich auszuweiten und auch Streaming-Plattformen verstärkt in den Blick zu nehmen. Das ist dringend nötig, denn bislang gelingt uns das nur über Umwege." Einer dieser Umwege sind kommerzielle VoD-Rankings, die von deutschen und internationalen Marktforschern meist auf Basis von Umfragen angeboten werden. "Daraus lassen sich zwar generelle Trends ablesen", so ARD-Forscher Zubayr. "So kann man etwa populäre von unpopulären Stoffen unterscheiden. Aber man sollte nicht den Fehler machen, vermeintlich präzise, bis auf die Nachkommastelle ausgewiesene Reichweiten einzelner Programme für bare Münze zu nehmen."