Sie tragen Titel wie: "Olivia & Dean wieder vereint?", "Will Mike Pia küssen?" oder "Der Liebespfeil geht an André vorbei". Die Rede ist von rund viertelstündigen Videos von "Berlin - Tag & Nacht", die RTLzwei - oft versehen mit quietschbunten Emojis - auf YouTube veröffentlicht. Mehr als 1,3 Millionen Fans zählt die Dailysoap auf der Videoplattform von Google und die meisten Filmchen, die der Privatsender hier veröffentlicht, erreichen locker 500.000 Aufrufe, viele sogar deutlich mehr. Wüsste man es nicht besser, man könnte meinen, "Berlin - Tag & Nacht" sei gar keine Fernsehserie. Tatsächlich erfreuen sich die Videos wohl auch deshalb so großer Beliebtheit, weil sie auch ganz gut funktionieren, ohne jeden Abend um 19 Uhr vor dem Fernseher zu sitzen.
Veröffentlicht werden bei YouTube nämlich eben nicht nur kurze Ausschnitte, sondern ganze Handlungsstränge. "Verdichteter Midform-Content" nennt Julian Krietsch, Bereichsleiter Channel Strategy & Content Distribution bei RTLzwei, das, was sein Sender hier zeigt. Longform bleibe im Gegenzug dazu dem Fernsehen und dem RTL-Streamingdienst TVNow vorbehalten. "Wie auch bei anderen Formaten im Haus verfolgen wir damit eine Funneling-Strategie, mit der wir unsere Zielgruppen bei allen relevanten Plattformen abholen und dann versuchen, sie zu den ganzen TV-Folgen zu lotsen - zum Beispiel über Sendehinweise und Verlinkungen auf TVNow."
Doch geht die Rechnung wirklich auf? Rund 700.000 Zuschauer erreicht die Soap derzeit über den klassischen Verbreitungsweg, in diesem Jahr liegt der Marktanteil in der klassischen Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen erstmals bei weniger als sechs Prozent. In Spitzenzeiten lag dieser Wert mehr als doppelt so hoch. Da liegt die Vermutung nahe, dass so mancher Fan über die Jahre hinweg komplett abgewandert ist ins Netz, wo lange Werbeinseln, wie man sie aus dem linearen Fernsehen kennt, nicht möglich sind. Doch Julian Krietsch wiegelt ab: "Digitale Erfolge gehen nicht zu Lasten der linearen Reichweiten", betont er und verweist auf den ersten Corona-Lockdown vor einem Jahr. "Da gingen die TV-Quoten und Social-Media-Zahlen parallel nach oben."
Ohnehin sei "dieses komplexe Konstrukt" auch in der Vermarktung ein zentrales Argument. "Unsere Soaps sind wahrscheinlich die einzigen Formatmarken in Deutschland, mit denen Werbekunden das ganze Jahr über crossmediale Kampagnen fahren können, die wegen der Vielzahl der Zugänge zur Zielgruppe extrem modular und flexibel planbar sind." Erfolgreich ist "Berlin - Tag & Nacht" außerdem nicht nur bei YouTube. Bei Instagram zählt "BTN" über 700.000 Fans, bei TikTok bringt es die Serie auf mehr als eine halbe Million.
"Facebook ist wieder wichtiger geworden"
Und dann ist da auch noch Facebook, wo "BTN" und die Domstadt-Soap "Köln 50667" von Beginn an stark vertreten waren. Alleine 2020 erzielten beide Serien nach Angaben von RTLzwei hier monatlich fast 50 Millionen Impressions - und nach wie vor ist "Berlin - Tag & Nacht" mit rund 2,6 Millionen Fans hier die erfolgreichste deutsche TV-Formatseite. Dass Facebook mit seinem Fokus auf Interaktion und Viralität im Laufe der Jahre an Relevanz eingebüßt hat, will Julian Krietsch indes nicht sagen. "Zwar ist die Nutzung bei jungen Zielgruppen insgesamt rückläufig, trotzdem ist Facebook wieder wichtiger geworden, weil die Plattform jetzt strategisch stärker auf Bewegtbild setzt", sagt der RTLzwei-Stratege.
Und doch bleibt freilich die Frage, in welche Abhängigkeit sich RTLzwei begibt, wenn man sich auf Conent-Partnerschaften mit Facebook oder Storylines bei YouTube einlässt - obwohl die US-Techriesen in schöner Regelmäßigkeit von deutschen Medienmachern kritisiert werden. "YouTube ist die Video-Suchmaschine Nr. 1. An diesem Fakt kommt niemand vorbei, der mit Bewegtbild möglichst viele Menschen erreichen will", betont Krietsch. "Deshalb nutzen wir YouTube ohne Berührungsängste, um vor allem mit unserer jungen Zielgruppe in Kontakt zu treten. Nebenbei verdienen wir dort auch substanziell." Wie viel, sagt der Sender freilich nicht.
Überhaupt sieht man YouTube in Grünwald als Testfläche für viele Formate. "Hier können wir mit großer Reichweite und direktem Feedback ausprobieren, ob Inhalte und Erzählweisen funktionieren", so Krietsch weiter. "Wir spielen also das Spiel mit, nutzen die Vorteile von Drittplattformen, bleiben aber maximal unabhängig mit dem Fokus auf die eigenen Distributionskanäle." So unabhängig wie man eben sein kann, wenn man Hunderttausende Serien-Fans auf Plattformen anspricht, deren Algorithmus so rätselhaft ist wie mancher Handlungsstrang einer Vorabend-Soap.