Es kommt nicht selten vor, dass sich Gewerkschaften und Arbeitgeber nach Tarifverhandlungen die Hand geben und gute Gespräche und noch bessere Ergebnisse betonen. Wie sehr ARD und die Dokumentarfilmer vor wenigen Wochen ihre neuen Gemeinsamen Vergütungsregeln (GVR) feierten, fiel aber schon auf. Von einem Meilenstein war da zu lesen, ja gar von einem Paradigmenwechsel. Und tatsächlich werden die neuen Regeln großen Einfluss auf die Drehbuchautoren und Regisseure von Dokumentarfilmen im Land haben - zumindest auf die, die für die ARD arbeiten.
Doch was genau macht die GVR so wichtig? Zu allererst wurden darin Mindesthonorare für Auftragsproduktionen festgelegt. Diese liegen zum Teil deutlich über den bisherigen Standards, vermutlich auch deshalb ist hier besonders hart verhandelt worden. Unterteilt ist die Erstvergütung in vier Kategorien, am wenigsten gibt es für eine 30-minütige Doku, das meiste für einen 90-Minüter. Unterschieden wird darüber hinaus noch zwischen Produktionen mit einem durchschnittlichen oder einem geringen Aufwand. Letzteres sind Formate wie die "Nord-Reportage" (NDR), "Verrückt nach Meer" (Das Erste), Zoo-Dokus oder auch "Schicksalsjahre einer Stadt" (RBB). Zur Stärkung von Produktionen mit einem besonders hohen Anspruch sind Zuschläge von bis zu 50 Prozent der Buch- und Regie-Honorare vorgesehen.
Ein Beispiel: Für einen 90-minütigen Dokumentarfilm mit durchschnittlich hohem Aufwand gilt ein Mindesthonorar von 45.000 Euro. In der Vergangenheit habe man dafür, je nach ARD-Anstalt, 25.000 bis 35.000 Euro bekommen, heißt es von den Dokumentarfilmern. Neu ebenfalls: Erstmals gibt es auch Geld für die Erstellung eines Treatments, 2.600 Euro um genau zu sein. Kommt später eine Beauftragung des Projekts, wird dieses Geld angerechnet. Früher standen Autoren oft mit leeren Händen da, wenn Sender Ideen wieder verwarfen.
Auch in der Vergangenheit sind angemessene Honorare gezahlt worden.
NDR-Justiziar Michael Kühn
Im Hintergrund gibt es außerdem ein Punktemodell, das die ARD derzeit schon bei fiktionalen Auftragsproduktionen anwendet. Dieses Modell löst den bisherigen Buyout ab und regelt die Nachvergütung. Das heißt: Mit der Zahlung der Erstvergütung erwirbt die ARD auch 210 Punkte. Mit jeder Ausstrahlung im Ersten, den Dritten Programmen oder den Spartenkanälen schmilzt der Punktestand. Ist er auf null, muss der Sender, der einen bestimmten Film nochmals ausstrahlen will, Punkte bei den Dokumentarfilmern nachkaufen. Wie viele Punkte pro Ausstrahlung verbraucht werden, ist genau festgehalten. Eine Ausstrahlung um 20:15 Uhr im Ersten kostet beispielsweise 100 Punkte. Am Vorabend und in der Late Prime wären es noch 70, nachts dagegen nur 10. Für ein Einstellen der Filme in die Mediathek werden ebenfalls Punkte verbraucht.
Für eine Ausstrahlung im Ersten werden folgende Punkte verbraucht (es zählt der Beginn der Ausstrahlung):
Zeitraum | Punkte |
00:30 - 05:59 Uhr | 10 |
06:00 - 13:59 Uhr |
20 |
14:00 - 17:59 Uhr | 40 |
18:00 - 19:59 Uhr |
70 |
20:00 - 20:59 Uhr | 100 |
21:00 - 22:29 Uhr |
70 |
22:30 - 00:29 Uhr | 50 |
Die neuen Vergütungsregeln sind auch eine Revolution, weil sie erstmals für alle ARD-Landesrundfunkanstalten gleichermaßen gelten. Bislang zahlten WDR, SWR, RBB, BR & Co. unterschiedliche Honorare für vergleichbare Dokumentarfilme. "Das hat sich historisch so ergeben", sagt NDR-Justiziar Michael Kühn, der die Verhandlungen auf Seiten der ARD geführt hat, im Gespräch mit DWDL.de. Das soll ab sofort ein Ende haben - zumindest bei den Mindeststandards. Nach oben hin gibt es natürlich keine Grenzen. Kühn betont: "Dokumentarfilmer, die in der Vergangenheit mehr verdient haben als ihnen jetzt nach dem Mindestsatz zustehen würde, erhalten auch weiterhin das höhere Honorar."
Am Ende der zweijährigen Verhandlungszeit waren die nun ausgehandelten GVR auch ein klassischer Kompromiss. Die Dokumentarfilmer wollten eine noch höhere Erstvergütung, bei der ARD wollte man diese Zahl so gut es geht unten halten. Der Senderverbund hatte natürlich auch ein Interesse daran, die Punkte, die bei den Ausstrahlungen abgezogen werden, so niedrig wie möglich zu halten - die Dokumentarfilmer wollten tendenziell immer mehr Punkte Abzug. Auch auf die Ausgangslage von 210 Punkten musste man sich erst einmal einigen. Die ARD wollte viel mehr, die Dokumentarfilmer weniger. Das sei teilweise wie beim Teppichhändler gewesen, heißt es aus Verhandlungskreisen. "Wir haben hart verhandelt, aber das musste sein. Es musste jetzt endlich ein Boden eingezogen werden, auf dem man in Zukunft aufbauen kann", sagt Cornelia Grünberg vom BVR. "Es ist momentan das bestmögliche Ergebnis, das wir erzielen konnten." Und die nun verhandelten Regelungen werden wohl auch Auswirkungen auf andere Gewerke haben, die verschiedenen Vergütungsregeln beziehen sich nämlich meist aufeinander. Alles, was jetzt verhandelt wurde, wird also sehr wahrscheinlich auch in künftigen Vereinbarungen gesetzt sein.
Qualität kann jetzt in der Breite bezahlt werden. Das war vorher nicht so.
David Bernet, Vorsitzender des Vorstands der AG DOK
Die Nachvergütung soll übrigens rückwirkend gelten. Alle Filme, die seit 2011 in einer ARD-Anstalt ausgestrahlt wurden, erhalten nachträglich ebenfalls 210 Punkte und nun wird geschaut, wie oft diese Filme wiederholt worden sind. Bislang gab es in der ARD kein System, das die Wiederholungen systematisch erfasst hat, weil man durch den Buyout ja einmal zahlte und in der Regel alle Rechte hielt. Seit mehreren Jahren wird nun aber schon an einem Tool gearbeitet, das die Wiederholungen automatisch erfassen soll. Das gilt auch für in der Vergangenheit ausgestrahlte Dokus. "Wir haben die Verbände darum gebeten, uns ein bisschen Zeit in dieser Sache zu geben. Wir arbeiten mit Hochdruck an den notwendigen technischen Systemen für die vielen tausend Zahlungsvorgänge und sind sicher, dass es spätestens im kommenden Jahr zu rückwirkenden Auszahlungen kommen wird", sagt NDR-Justiziar Michael Kühn.
Wie groß wird die Mehrbelastung für die ARD?
Fest steht: Auf die ARD werden zusätzliche Kosten zukommen. In einer Zeit, in der alle Landesrundfunkanstalten wegen des vorerst nicht gestiegenen Rundfunkbeitrags auf ihre Etats schauen müssen, ist das eine ganz besondere Herausforderung. Doch die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) hatte den Öffentlich-Rechtlichen in ihrem 20. Bericht rund 253 Millionen Euro als zusätzlichen Aufwand für Produzenten und Urheber anerkannt, davon entfallen alleine auf die ARD etwa 147 Millionen Euro. Die zusätzlich bereitgestellten Mittel, die auch von 2021 bis 2024 zur Verfügung stehen, sind aber natürlich nicht nur für Dokumentarfilmer gedacht, sondern für Produzenten aus allen Genres und auch für Vereinbarungen mit Schauspielern und anderen Berufsgruppen. "Die ARD nimmt deutlich mehr Geld in die Hand, wenn eine Dokumentation beauftragt wird", sagt Michael Kühn. Wie viel das neue Modell mit den Dokumentarfilmern die ARD genau kosten werde, sei eine Variable mit vielen Unbekannten, so der NDR-Justiziar. "Wir gehen aber davon aus, dass wir uns im Rahmen der hierfür beantragten Mittel bewegen."
Kommt es zu unterschiedlichen Auffassungen über die Anwendung der GVR, wird sich eine Clearingstelle mit den Sachverhalten beschäftigen. Hier sitzen jeweils zwei Mitglieder von AG DOK und BVR, vier weitere kommen von den ARD-Anstalten sowie der Produzentenallianz. Beschlüsse, durch die die Gemeinsamen Vergütungsregeln geändert werden, kann die Clearingstelle aber keine treffen, sie spricht lediglich Empfehlungen aus.
Verhandlungen gehen weiter
Trotz des erzielten Meilensteins sehen sich die Dokumentarfilmer noch nicht am Ziel. "Es muss weitergearbeitet werden", sagt BVR-Vorstandsmitglied Cornelia Grünberg. Und auch David Bernet von der AG DOK geht davon aus, dass es weitere Anpassungen geben wird. Sehr konkret ist schon der Punkt der Mediatheken. So soll die pauschale Abgeltung der Mediatheken-Nutzungen möglichst rasch durch ein nutzungsbasiertes Vergütungsmodel ersetzt werden. Bis Ende 2021 wollen ARD und Dokumentarfilmer hier zu einem Ergebnis kommen. Ebenfalls bis Ende dieses Jahres will man auch eine Einigung über die Vergütungsregeln für Inhalte, die die ARD über soziale Netzwerke und anderen externen Plattformen verbreitet. Auf Youtube etwa kommen gleich mehrere ARD-Dokukanäle auf mehr als 100.000 Abonnenten. Puls Reportage gehört mit mittlerweile rund 760.000 Abonnenten zu den erfolgreichsten öffentlich-rechtlichen Youtube-Kanälen überhaupt - und die ARD wird auch nicht müde, das zu betonen.
Knackpunkt sowohl bei der Mediathek als auch auf den externen Plattformen ist die noch zu definierende Währung. "Das Problem ist, dass es bislang keine akzeptierte Währung im Online-Bereich gibt, die vergleichbar ist mit Marktanteil und Sehbeteiligung im Fernsehen", sagt NDR-Justiziar Michael Kühn. Man arbeite jetzt an einer solchen Währung. Möglich wäre eine Betrachtung der Sehdauer der verschiedenen Inhalte in der Mediathek. Netflix etwa hat den Begriff der "Completer" eingeführt und schüttet zusätzliches Geld aus, wenn eine bestimmte Anzahl an Personen eine Produktion gesehen hat (DWDL.de berichtete).
Wichtig ist eine Regelung in Sachen Mediatheken und externer Plattformen wie Youtube für die Dokumentarfilmer auch deshalb, weil diese Kanäle für immer mehr Nutzung verantwortlich sind. "Im Corona-Jahr 2020 hat sich sehr deutlich gezeigt, dass die Nutzung der Mediatheken stark gestiegen ist. Deshalb muss dieser Bereich in Zukunft völlig anders bewertet werden. Zumal die ARD inzwischen auch exklusiv für die Mediathek produziert", sagt Cornelia Grünberg. David Bernet hält eine Einigung bis Ende des laufenden Jahres für "realistisch und notwendig". Erst vor einigen Tagen freute man sich bei der ARD über 9,7 Milliarden Videoviews in 2020 alleine bei Facebook und Youtube - darin enthalten sind freilich nicht nur Doku-Inhalte. Aus Sicht der AG DOK außerdem noch offen ist der Umfang der Nutzungsrechte, die man als Autor abgibt.
Doch mit dem bis jetzt erreichten zeigen sich alle Seiten in jedem Fall schon mal zufrieden, dafür haben ARD, AG DOK, BVR und Produzentenallianz ja auch lange verhandelt. Herausgekommen ist ein kompliziertes Modell, durch das Autoren und Regisseure von Dokumentarfilmern in Zukunft besser bezahlt werden als bislang. Nicht nur die Mindesthonorare sind spürbar gestiegen, auch der Buyout mit pauschalen Gagen gehört der Vergangenheit an. Wenn Dokus künftig besonders oft gezeigt werden und erfolgreich sind, haben auch die Macher etwas davon. Insofern sind die neuen Vergütungsregeln tatsächlich Paradigmenwechsel und Meilenstein gleichermaßen.