Vor neun Tagen herrschte mal wieder Feierlaune im Ersten, Sonntagabend eben, "Tatort"-Zeit. Fast 13 Millionen Schaulustige sahen da den 37. Fall der Münsteraner Ulknudeln. Verglichen mit der Konkurrenz war das ein beachtlicher Wert, verglichen mit der eigenen Messlatte hingegen weniger. Knapp 43 Jahre zuvor nämlich kam die legendäre SDR-Folge „Rot – rot - tot“ mit dem noch viel legendäreren Curd Jürgens als Mörder locker aufs Doppelte. Gemessen daran sind 13 Millionen Zuschauer eines fiktionalen Formats also eher Peanuts – gemessen am ewigen Rekordhalter sogar ziemlich mickrige.
Am 17. November 1985 nämlich hatte „Die Schwarzwaldklinik“ eine Reichweite, von der selbst Fußballländerspiele allenfalls Richtung WM-Finale noch träumen: 27,97 Millionen. Gut, als das ZDF den ewigen Bestwert erzielte, rang es mit einer Handvoll statt 300 Sendern plus Streaming, Smartphone, Social Media ums Publikum. Und dass die GfK abgekürzte Gesellschaft für Konsumforschung seither 5000 Binge-Watcher im Dunst der Heisenbergschen Unschärferelation zum Maßstab des kollektiven Fernsehverhaltens macht, wird unter Statistikern bis heute moniert. Dennoch bleiben die Topquoten von damals bemerkenswerte Chiffren einer bemerkenswerten Zeit.
Dr. Brinkmann entließ die Zuschauer seiner sonnendurchfluteten „Schwarzwaldklinik“ ja gewissermaßen direkt aufs „Traumschiff“, dessen Personal parallel im Gutshaus der „Guldenburgs“ unterkam oder ganze Familien heiraten durfte. Es war die Epoche reichweitenstarker Reihenunterhaltung. Im grimmepreisgekrönten Grimmepreis-Porträt „Es werde Stadt“ erzählt Dominik Graf 2014 vom Jubel der Programmdirektion, den Dokumentarfilmer noch bis ins Kellergeschoss vom Mainzer Lerchenberg hörten, sobald die GfK am Montag nach der „Schwarzwaldklinik“ neue Höchstwerte verkündete. Höhere jedenfalls als all die Reportagen, Newsformate, Autorenfilme der Hauptsendezeit. „Diese Begehrlichkeiten“, sagte Graf zum Deutschlandfunk, hatten „fatale Wirkung“.
Kein Vierteljahrhundert also, nachdem das ZDF sein Publikum erstmals auch quantitativ erfassen konnte, geriet die Qualität in den Abwärtssog gutmessbaren Zuspruchs. Und es ist nicht frei von Ironie, dass dafür eines der seriöseren Formate deutscher Serienproduktion mitverantwortlich ist: „Diese Drombuschs“. Als die horizontal erzählte, optisch eher spröde, aber erzählerisch komplexe Familiensaga Anfang 1992 fast 50 Prozent Marktanteil erzielte, schrillten bei der Konkurrenz alle Alarmglocken. Im fiktionalen Sog des Mainzer Konkurrenten, beendete der neue ARD-Programmchef Günter Struve, künftiger Spitzname: Mr. Süßstoff, die Fixierung auf US-Importe und stampfte Serien aus dem Boden. Viele Serien. Furchtbare Serien. Besonders am lukrativen Vorabend.
Bloß keine verwirrenden Erzählstrukturen
Während Mittelschichtenunterhaltung wie „Der Fahnder“ oder „Auf Achse“, „Liebling Kreuzberg“ und natürlich die „Lindenstraße“ - R.I.P. - den deutschen Alltag relativ vielschichtig fiktionalisiert hatten, hagelte es im Gegenlicht der kommerziellen Konkurrenz fortan Ramschware für Anspruchslose. Der unsägliche „Marienhof“ untergrub den Staatsauftrag schon Ende des Jahres schleichwerbefinanziert mit Daily-Banalität, derweil die Animateure in „Sterne des Südens“ einen Boom juveniler Ferienformate auslösten, den „Klinik unter Palmen“ 1996 medizinisch andickte und damit die Basis unzähliger Arztserien von „St. Angela“ bis „In aller Freundschaft“ legte.
Dem wollte das ZDF nicht nachstehen. Erst wurde ein Affe namens Charly zum Star, dann ein Reaktionär namens Knopp, doch spätestens, als ein Single namens Bianca die Welle schaumiger Telenovelas anschob, schlug das Erste zurück und verkleidete Yvonne Catterfelds „Sophie“ im Schundromanstil des Fin de Siècle. Mitverantwortlich für diesen Hochglanzverfall war ein Manifest des ARD-Fernsehfilmkoordinators Jürgen Kellermeier. Um die „Reichweitenziele“ zu erhöhen, empfahl er vor 20 Jahren „unkomplizierte, einfache, klare, auf keinen Fall verwirrende“ Erzählstrukturen unter „einladenden, anziehenden“ Titeln für Hauptdarsteller mit „hohem Bekanntheitsgrad“. Dass ihr Name künftig Neubauer, Neubauer oder Neubauer lautete, lag wiederum am Führungswechsel bei der Degeto.
Denn zeitgleich übernahm der Schnulzenjunkie Hans-Wolfgang Jurgan die ehrwürdige ARD-Filmschmiede, degenerierte sie zur „Süßstofffabrik“ und fuhr mit Eskapismus auf Groschenheftniveau Quoten ein, die Günter Struves Nachfolger Volker Herres bis heute vom Erfolgsmodell ARD faseln lässt. Es folgten Abertausend Regionalkrimis mit oder ohne Schmunzeln im Gesicht, Historienmehrteiler mit oder ohne Frau zwischen zwei Männern, dazu ulkige Nonnen, Rateshows in Endlosschleife, und als „Der Bergdoktor“ 2008 von Sat.1 ins ZDF wanderte, war das Schicksal der öffentlich-rechtlichen Primetime besiegelt.
Wer vor 22 Uhr abseits vom ARD-Mittwochsfilm nach couragierter, gar experimenteller Fiktion sucht, wird also auch dank des 17. Novembers 1985 kaum fündig. Das gilt vor allem fürs neue Kino Serie. Kreative Materialschlachten wie „Babylon Berlin“ jedenfalls laufen zunächst bei Sky und werden im Ersten zu Mehrteiler verdichtet, während allenfalls ein paar Spartenkanäle von Neo bis Funk überhaupt noch versuchen, den Videoportalen kreativ Paroli zu bieten. Und das „Neo Magazin Royale“? Läuft im ZDF nun kurz vor Mitternacht.
35 Jahre nach dem Quotengipfel vom Glottertal wiederholt das ZDF heute um acht übrigens erst Inga Lindström, dann Rosamunde Pilcher. Was jedoch insofern pragmatisch ist, als die ARD parallel ein Fußballländerspiel zeigt. Es findet in der Nations League statt. Für alle, die sie nicht kennen: es gleicht Spitzenlivesport auf Vorabendniveau.