Mit den internationalen Streamingdiensten kamen vor weit mehr als fünf Jahren neue Serien wie "Orange is the new black" bei Netflix oder "Transparent" bei Amazon zu uns. Geschlechter-Klischees wurden aufgebrochen und selten gehörte, persönliche Geschichten erzählt, die bislang so nie im Mittelpunkt fiktionaler Stoffe standen. Das galt auch in den Folgejahren immer wieder für Streamingserien, aber offenbar nicht annähernd so häufig wie es durch Prestige-Produktionen der Streamingdienste den Eindruck erweckte.
Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls eine neue Studie von Prof. Dr. Elizabeth Prommer vom Institut für Medienforschung an der Universität Rostock, die sich Geschlechterdarstellungen und Diversität in Streaming- und SVoD-Angeboten der letzten Jahre angeschaut hat. "Die Studie zeigt einmal mehr, wie wichtig es ist, dass man gefühlten Wahrheiten Fakten gegenüberstellt", sagt Maria Furtwängler, Co-Gründerin der MaLisa Stiftung, in deren Auftrag die Studie - mit Unterstützung von ZDF und Film- und Medienstiftung NRW - entstanden ist.
Denn bei den 192 jetzt untersuchten Streamingserien von 2012 bis 2019 wurden ähnliche Missstände aufgedeckt wie in vorherigen Studien über das deutsche lineare TV-Programm. Protagonistinnen und weibliche Hauptrollen sind beispielsweise nur in Genres wie Romantik, Sitcom oder Drama noch vergleichsweise oft zu sehen. Geht es um die große Politik, Action, Abenteuer, Historie oder Krimi schrumpft der Anteil weiblicher Hauptfiguren deutlich. Die Studie urteilt auch über Streamingserien: "Es wird entlang tradierter Geschlechterbilder besetzt."
"Auch Streaming-Serien spiegeln nicht die Gesellschaft wider"
Prof. Dr. Elizabeth Prommer
Dass auch in den untersuchten Produktionen, darunter u.a. 134 Serien von Netflix und 34 Serien von Prime Video, eine spürbare Unsichtbarkeit von Frauen jenseits eines Alters von 40 Jahren besteht und erst im Großmutter-Alter wieder leicht bessere Chancen bestehen, ernüchtert. "Auch Streaming-Serien spiegeln nicht die Gesellschaft wider: Frauen sind weniger vielfältig dargestellt als Männer. Sie kommen seltener vor, sind jünger, schlanker und nur in bestimmten Berufen zu sehen", sagt Prof. Dr. Elizabeth Prommer zum Ergebnis der neu vorgelegten Studie.
Die untersuchte nicht nur wie viele Frauen in Hauptrollen zu sehen waren, sondern ging qualitativ tiefer: Welche Berufe haben die portraitierten Figuren? Im Krankenhaus, im Einzelhandel und als Lehrerin oder Sozialarbeiterin tauchen Frauenrollen häufig auf. Die Rollen von Sicherheitskräften und Kriminellen hingegen sind der Studie nach eine Männerdomäne. Wie viel Haut zeigen Mann und Frau? Frau spürbar häufiger (ganz besonders bei Serien in Süd- und Mittelamerika), was einher geht mit der Erkenntnis: Weibliche Rollen sind auch häufiger mit dünneren Figuren besetzt als männliche Rollen.
Mit Blick auf die Ethnie der Darstellerinnen und Darsteller spiegeln die Streaming-Serien allerdings mehr Diversität als das deutsche Fernsehen. Bei der Darstellung von sexuellen Identitäten sind sie ebenso einen Schritt weiter. Interessant aber auch hier: Schwule Paare werden häufiger gezeigt als lesbische Paare, ohnehin sind mehr weibliche als männliche Charaktere bisexuell angelegt. Und Forscherin Prof. Dr. Prommer merkt an: "Nicht-binäre und Figuren mit anderen Geschlechtsidentitäten tauchen so gut wie gar nicht auf."
Ungerechtigkeit nicht nur vor, auch hinter der Kamera
Hier stößt die Studie allerdings auch an ihre Grenzen: Serien, die in Deutschland zwar bei Streamingdiensten verfügbar sind, aber ursprünglich z.b. im US-Kabelfernsehen liefen, sind nicht berücksichtigt. Serien mit solchen Figuren wie z.B. "Mr. Robot" oder "Billions" sind dementsprechend raus aus der Statistik. Ein Detail, weil es die Aussagekraft der Studie etwas schwerer greifbar macht, weil wiederum Produktionen von Sky und TNT Serie als Streamingserien drin sind in der Betrachtung. Das Gesamtergebnis lässt sich wohl zusammenfassen mit den Worten: Beim Streaming sieht es etwas besser aus, aber auch noch lange nicht gut genug.
Und das insbesondere auch hinter den Kulissen: In den Gewerken agieren auch bei den internationalen Streamingserien überwiegend Männer, insbesondere bei der Regie (78,2 Prozent männlich), aber auch bei den Kameraleuten: In 89,9 Prozent der Fälle in den Händen von Männern. "Die kreativen Teams sind männerdominiert", fasst Prof Dr. Elizabeth Prommer zusammen. Maria Furtwängler sieht insgesamt Licht und Schatten in den Ergebnissen der an diesem Donnerstag erscheinenden Studie.
"In einigen Punkten mögen internationale Streaming-Angebote insgesamt diverser sein als die klassischen, linearen. Bei der Darstellung von Frauen sind sie es jedoch keineswegs. Wie schade, dass das Publikum weiterhin auf weibliche Vorbilder in all ihrer Vielfalt verzichten muss", sagt die Schauspielerin, Produzentin und über die MaLisa Stiftung engagierte Aktivistin für mehr Geschlechtergerechtigkeit in Film und Fernsehen. Ein Anliegen, bei dem in diesem Fall die Film- und Medienstiftung NRW sowie das ZDF unterstützt haben.
Aber mit welcher Intention lässt das ZDF eigentlich über Streamingserien forschen? "Die Ergebnisse geben uns Hinweise darauf, wo das ZDF im Marktvergleich steht", sagt Florian Kumb, Hauptabteilungsleiter Programmplanung des ZDF und wirft damit gleich die nächste Frage auf: Und wo steht es nun? Muss der Sender auf dem Lerchenberg nicht, wie manch anderer linearer Fernsehsender, einräumen, dass es der internationale Serienboom war, der eine neue Vielfalt von Charakteren und Geschichten losgetreten hat?
Was nimmt das ZDF nun mit aus der Studie?
"Wettbewerb ist immer Ansporn, selbst noch besser zu werden", sagt Florian Kumb. "Einen Anstoß für mehr Vielfalt brauchten wir von den amerikanischen Streamingdiensten aber nicht. Das ZDF hat vor 13 Jahren als eines der ersten Unternehmen die 'Charta der Vielfalt' unterzeichnet. Unsere Redaktionen beschäftigen sich mit den unterschiedlichen Aspekten von Diversity." Als Netflix nach Deutschland kam, habe das ZDF bereits "Lena Lorenz" im Programm gehabt. "An eine Serie über eine Hebamme im bayerischen Voralpenland denkt vermutlich beim Thema Diversity kaum jemand – wer das Figurenensemble betrachtet, wird aber überrascht", so Kumb.
In der gerade gestarteten Serie "Breaking Even" spielt Lorna Ishema eine Anwältin, die sich gegenüber ihrem Arbeitgeber emanzipiert. Ihre Hautfarbe spielt dabei keine Rolle. "Am Ziel sind wir aber noch nicht", sagt der ZDF-Mann und führt aus: "Wir sind in den vergangenen Jahren schon deutlich vorangekommen – sowohl vor als auch hinter der Kamera. Es geht vor allem darum, bei allen relevanten Entscheidungen die Diversity-Perspektive bewusst einzubeziehen: Zeigen wir in unserem gesamten Angebot die Breite und Vielfalt unserer Gesellschaft? Bestätigen wir Klischees oder haben wir Formate, in denen sie auch gebrochen werden?"
ZDF strebt Parität bei Regie-Besetzungen an
Während die Sichtbarkeit von Frauenfiguren und Diversität vor der Kamera für alle einsehbar ist und zunehmend auch auf ein Publikum trifft, die dies aktiv auch einfordert, legen die Studien von Prof. Dr. Elizabeth Prommer mit prominententer Unterstützung von Maria Furtwängler immer wieder auch das Augenmerk auf Gender Equality hinter den Kulissen, wo es vom Publikum nicht so unmittelbar zu erkennen ist. Und hier kündigt Florian Kumb, Chef-Programmplaner beim ZDF, vor dem Hintergrund der aktuellen Studie auch konkrete Ziele an.
"Sind Kreativteams so besetzt, dass mehr als ein Blickwinkel entsteht?", sagt Kumb. Und nennt ein konkretes Beispiel, an dem der Sender arbeite: "Wir haben uns zum Ziel gesetzt, ohne feste Quote den Anteil von Regisseurinnen bei Filmen und Serien kontinuierlich zu steigern. 2018 lagen wir noch bei etwa 20 Prozent – viel zu niedrig. Heute liegen wir fast um die Hälfte höher. Und dennoch werden wir weiter daran arbeiten, uns in Richtung Parität zu entwickeln." Und er kann sich sicher sein, dass dies genau beobachtet wird.