Eigentlich hatte die "New York Times" schon im Dezember 2018 die Katze aus dem Sack gelassen: "Ellen DeGeneres ist nicht so nett wie Sie denken", lautete damals die Überschrift eines (dann natürlich doch freundlichen) Porträts, in dem der Superstar über ihr Image nachdenkt. "Be Kind!" rufen und dann ständig staksig Tanzen? Das sei doch auf Dauer ein bisschen wenig, orakelt sie da. Und ohnehin wünsche sich ihre Frau Portia de Rossi , dass sie mit der nachmittäglichen Talkshow aufhöre, gab die damals 60-Jährige zu.
"Im persönlichen Gespräch ist sie direkter, reflektierter und interessanter als in der Show; bereit zu einer milden Irritation, die vor einem landesweiten Publikum falsch ankommen könnte", lautet das Fazit des Artikels. "Sie sagt, sie habe gelernt, sich weniger darum zu kümmern, ob sie gemocht wird."
Anderthalb Jahre nach dem Porträt ist die Kritik an Ellens seit 2003 laufender Show so stark wie nie zuvor. Von einem vergifteten Arbeitsklima ist in deutlichen Anschuldigungen die Rede und es gibt sogar Vorwürfe sexueller Belästigung gegen einen der Produzenten. Neben der Aufarbeitung dieser konkreten Fälle ist die große Frage, ob sich eine der stärksten Celebrity-Marken der Welt noch retten lässt.
Die Vorwürfe: Belästigung, üble Scherze und eine Chefin, die vor den Problemen die Augen verschließt
Die bisher schwerwiegendsten Vorwürfe hat BuzzFeed News am vergangenen Donnerstag nach Gesprächen mit 36 früheren Mitarbeitern veröffentlicht: Dutzende von ihnen gaben zu Protokoll, wie verbreitet sexuelle und sonstige Belästigung hinter den Kulissen waren. Unter anderem soll Executive Producer Kevin Leman sich bei einer Firmenfeier 2013 unangemessen verhalten haben. Bei der Veranstaltung soll der Chefautor einen Kollegen darum gebeten haben, ihm einen runterzuholen oder im Bad mit ihm Oralverkehr zu haben. Ein weiterer Informant will Leman gesehen haben, wie er nach dem Penis eines Produktionsassistenten grabschte. Im Mai 2017 will außerdem ein ehemaliger Mitarbeiter beobachtet haben, wie Leman in einem Auto einen Produktionsassistenten angefasst und seinen Nacken geküsst hat.
Fast ein Dutzend ehemalige Mitarbeiter sagten, dass im Büro sexuelle Anzüglichkeiten an der Tagesordnung gewesen seien und sich diese häufig gegen jüngere Angestellte und Untergebene gerichtet hätten. Leman soll regelmäßig und auch vor anderen die Beulen im Schritt von Kollegen kommentiert haben oder ihnen die Frage gestellt haben, ob sie eher "Top" oder "Bottom" beim Geschlechtsverkehr seien.
Auf die Vorwürfe angesprochen, verweigerte der Mutterkonzern Warner Bros. einen Kommentar und verwies darauf, dass es wegen eines zwei Wochen zuvor veröffentlichten Berichts bereits ein internes Verfahren gebe. In diesem am 16. Juli erschienenen Artikel hieß es, dass Ellens Motto "Be Kind" ("Sei nett") nur leidlich über eine vergiftete Stimmung hinter den Kulissen hinwegtäusche. Schon in diesem Artikel beschwerten sich ein aktueller und zehn frühere Angestellte über Rassismus, Angst und Einschüchterungsversuche. "Dieser 'Be Kind'-Bullshit passiert nur, wenn die Kameras an sind, es ist alles nur Show", wird ein Angestellter zitiert. Unter anderem soll es nach gesundheitsbedingten Pausen oder freien Tagen zum Besuch von Familientrauerfeiern grundlose Entlassungen gegeben haben.
DeGeneres antwortet Mitarbeitern per Brief
DeGeneres selbst versucht es nun mit der Flucht nach vorn und hat einen Brief an die Mitarbeiter geschrieben, aus dem unter anderem "Variety" zitiert. „Am ersten Tag unserer Show habe ich allen im ersten Meeting gesagt, dass 'The Ellen DeGeneres Show' ein Ort des Glücks sein würde. Niemand würde je die Stimme erheben und alle würden mit Respekt behandelt. Offensichtlich hat sich etwas verändert." Kritiker fragen sich nun, ob es sein kann, dass DeGeneres wirklich von nichts gewusst hat, sie selbst schreibt weiter: "Mein Name steht über der Show und allem, was wir tun und ich übernehme Verantwortung. Zusammen mit Warner Bros. haben wir sofort eine interne Aufarbeitung begonnen und gehen gemeinsam Schritte, um diese Themen zu korrigieren." Die Show sei so stark exponentiell gewachsen, dass es ihr nicht mehr gelungen sei, alle Fäden in der Hand zu halten. Vor umfangreichen Veränderungen hinter den Kulissen scheint der Brief nicht zu schützen: Laut "Variety" wird Senior Producer Ed Glavin innerhalb kurzer Zeit seinen Posten verlassen. Gegen zwei direkte Management-Kollegen von ihm richteten sich keine Vorwürfe und sie sollen bleiben, hieß es weiter.
"Fies", "kalt" und mit schlechter Corona-Kommunikation – die Kritik an DeGeneres reißt nicht ab
Sexuelle Belästigung und ein mieses Arbeitsklima waren aber ohnehin nicht die ersten öffentlichen Vorwürfe gegen Show und Star, es waren nicht einmal die ersten Beschwerden seit Beginn der Corona-Krise. Schon im April waren Stimmen laut geworden, wonach es im Team heftige Unzufriedenheit mit dem Kommunikationsverhalten der Führungsriege gab. Als seinerzeit die täglichen Aufnahmen der Show in Ellens Zuhause verlegt wurden, habe man dafür nicht die seit Jahren etablierten Kräfte verpflichtet, sondern einen nicht-gewerkschaftlich organisierten Dienstleister beauftragt.
Während des ersten Lockdowns im März seien außerdem Gehälter um 60 Prozent zusammengestrichen worden, und zwar auch dann noch, als die Sendung wieder ins Programm genommen wurde, schrieb "Variety" – über Kollege Jimmy Kimmel hatte da bereits die Story die Runde gemacht, dass er aus eigener Tasche seinem Team die Differenz gezahlt habe. Auch bei John Oliver, Samantha Bee und Desus & Mero seien Gehälter spätestens bei der Wiederaufnahme des regulären Sendeplans normal weitergezahlt worden, hieß es. Zusätzlichen Spott hatte es gegeben, weil Ellen sich im April aus ihrer Dutzende Millionen Dollar teuren Villa heraus darüber beschwert hatte, dass die Quarantäne ja wie "Gefängnis" sei. "Hauptsächlich, weil ich seit zehn Tagen die gleichen Klamotten anhabe und alle hier drin lesbisch sind", schob sie hinterher – trotzdem wurde der Kommentar angesichts vieler Covid-Toter in Gefängnissen und katastrophalen Haftbedingungen zu einem Skandal hochgejazzt.
Auch in den Monaten zuvor war Ellen kaum aus den negativen Schlagzeilen gekommen. Im Januar hatte YouTuberin NikkieTutorial zum Schlag ausgeholt und DeGeneres nach einem Auftritt in der Show als "gemein" bezeichnet, "distanziert" und "kühl". "Trefft besser nicht Eure Idole", beschwerte sie sich und einige kleinere Sternchen und Comedians stimmten ein. "BuzzFeed" veröffentlicht immer mal wieder Listen mit Prominenten, die sich bei ihrem Auftritt oder nach der Show über Unterschiede zwischen der öffentlichen Persona des Stars und ihrer tatsächlichen Behandlung während der Produktion wunderten.
Zuvor hatte es im Herbst Grummeln darüber gegeben, dass DeGeneres bei einem Football-Spiel neben dem früheren Präsidenten George W. Bush und dessen Frau gesessen habe. Der sei doch immerhin noch für den ungerechtfertigten Irakkrieg verantwortlich gewesen, meinte beispielsweise Schauspieler Mark Ruffalo. Sie selbst verteidigte sich minutenlang in ihrer Show: "Es ist nun einmal so: Ich bin mit George Bush befreundet. Ich bin mit vielen Menschen befreundet, die nicht die gleichen Werte teilen, die ich habe." Hinterher fragte sich "Vanity Fair", ob solche Aktionen nicht möglicherweise eine Grenze von DeGeneres‘ "bedingungsloser Freundlichkeit" aufzeigten.
Ellen DeGeneres – Ein Superstar in der Liga von Oprah Winfrey
Egal, wie man zu diesen Geschmacksfragen oder zu den Belästigungsvorwürfen stehen mag: Das alles bedroht das öffentliche Ansehen einer Frau, in deren Liga seit dem Aus von Oprah Winfreys Talkshow 2011 niemand mehr spielt. DeGeneres ist ein Superstar mit Toleranz-Message und Wohlfühl-Agenda, wie es ihn derzeit kein zweites Mal gibt. Auch in Deutschland ist es leicht zu übersehen, wie groß ihr Ansehen ist, schließlich gab es hierzulande eher nur verschämte Ausstrahlungen ihrer Sitcom vor zwei Jahrzehnten und einige untertitelte Sonntags-Runs der Talkshow auf Sat.1 emotions. Es fehlt an vergleichbaren Role Models, denn eine TV-Persönlichkeit mit ähnlicher Gravitas gibt es in Deutschland nicht.
Frei von Rückschlägen war die Karriere von DeGeneres aber nie. Nach dem Durchbruch als "Funniest Person in America" in einem "Showtime"-Wettbewerb 1982 und ersten Erfolgen mit Standup-Programmen ging es für sie in den 90ern dank der eigenen Sitcom "Ellen" steil bergauf. Höhepunkt des öffentlichen Interesses war das parallele Outing von Hauptfigur und Darstellerin 1997. Es folgten einige eher magere Jahre mit spärlichen Schauspielgigs. 2003 brachte dann die Wende, einerseits als Synchronsprecherin des verwirrten Fisches Dorie in "Findet Nemo", andererseits dank des Starts der "The Ellen DeGeneres Show", einem täglichen Talk-Show-Schlachtschiff, das es mit unverfänglichen Interviews und netten Give-Away-Aktionen für die Studio-Zuschauer auf über 3.000 Episoden gebracht hat – und das dank oft sehenswerter Clipformate auch früh den Weg ins Internet-Reposting-Zeitalter geschafft hat. Immer wieder kommen die Filmchen auf mehr als zehn Millionen Aufrufe. Die Auszeichnungen und Zusatz-Engagements für DeGeneres nahmen kein Ende, über 30 Daytime-Emmys gab es, zwei Mal moderierte sie die Oscars und 2016 verlieh ihr Barack Obama in einer rührenden Zeremonie die Presidential Medal of Freedom – es gibt keine größere Auszeichnung für Zivilisten in den USA.
Drumherum ist eine ganze Industrie entstanden: Fünf Bücher hat sie veröffentlicht, darunter eins mit ihrer Mutter und eins über Inneneinrichtung. Eine Produktpalette bis hin zur Hundedecke sind anschlussfähig ans nerdige Wohlfühlimage – und sie sind gut fürs Geschäft. Bis heute ist DeGeneres als Produzentin und Abendshow-Moderatorin ("Game of Games") eine der präsentesten Figuren der US-Unterhaltungsbranche. Auf 84 Millionen Dollar schätzt Forbes das Jahreseinkommen 2020, ihr gesamtes Vermögen wird irgendwo zwischen 300 und 500 Millionen Dollar vermutet.
Es bleibt die Frage: Wie viel wusste der Star selbst?
All das steht nun auf dem Spiel. Vielleicht weniger wegen der konkreten Vorwürfe, sondern viel mehr, weil die Glaubwürdigkeit leidet. Kann es wirklich sein, dass sie von nichts wusste? Für eine Frau, deren Name die Marke ist und die so eng in den Kreativprozess eingebunden sei, wäre das doch reichlich ungewöhnlich, heißt es bei "BuzzFeed News". "Sie weiß Bescheid", wird einer der früheren Angestellten zitiert. "Sie weiß, dass Scheiße passiert, aber sie will es auch einfach nicht hören."