Dass der Südwestrundfunk sich dokumentarisch mit einem sozialen Brennpunkt in Ludwigshafen beschäftigen will, hatte der Sender bereits zwischen etlichen anderen Programmvorhaben angekündigt (DWDL.de berichtete). Welches Mammutprojekt jedoch dahintersteckt, das einen fürs öffentlich-rechtliche Fernsehen ungewohnten Weg beschreitet, war bislang nur Eingeweihten bekannt.
Seit März laufen – mit coronabedingten Unterbrechungen – die Dreharbeiten zur sechsteiligen Doku-Serie "Bayreuther Straße", die die Hamburger Firma Filmreif TV für den SWR produziert. In und um Ludwigshafen ist die titelgebende Adresse berüchtigt: Dort liegt ein städtisches Einweisungsgebiet, also eine Ansammlung von Wohnblöcken, in denen von Armut und Obdachlosigkeit bedrohte Menschen untergebracht werden. Wer hier lebt, steht nah am sozialen Abgrund.
Zu den Protagonisten der Serie zählt ein junges Paar, dessen drei Kinder vom Jugendamt in Obhut genommen wurden; ein Rentner-Ehepaar, das sich finanziell verzockt und darüber seine Wohnung verloren hat; oder eine Frau, die nach Trennung und Kindesentzug nun emsig versucht, ihre Hartz-IV-Bezüge aufzubessern, und auf bestem Weg ist, sich neu zu verlieben. Sie sind von Drogenabhängigen, psychisch Erkrankten, aus der Haft entlassenen Ex-Straftätern und anderen Menschen am Rand der Gesellschaft umgeben.
Das Fernsehpublikum kennt solche Protagonisten in erster Linie aus dem RTLzwei-Programm, aus einschlägigen, nicht selten kritisierten Formaten wie "Hartz und herzlich" oder "Armes Deutschland". Auch in Ludwigshafen waren RTLzwei und seine Produzenten schon und haben dort – so sagen es Vertreter der Stadt – mit ihrer Machart verbrannte Erde hinterlassen. Für die Öffentlich-Rechtlichen ist das Sujet weitgehend neu, jedenfalls im Seriellen.
"Ich habe hier im SWR ein sehr doku-starkes Haus vorgefunden", so Bitterling. "Allerdings lag der Schwerpunkt bisher meist auf journalistisch einordnenden Filmen. Bei seriellen Formaten, die einfach mal auf Augenhöhe beobachten, können wir sicher noch eine Schippe drauflegen. Wir neigen als öffentlich-rechtliche Fernsehmacher manchmal dazu, uns an unserer eigenen Bubble zu orientieren. Dabei ist ein offener, unverstellter Blick auf verschiedenste Gesellschaftsschichten und Bildungsniveaus wichtiger denn je."
Während etwa die BBC in Großbritannien seit langem Sozial-Doku-Soaps zeigt, die ernsthafte gesellschaftspolitische Themen mit populärem Storytelling und persönlichen Schicksalen verknüpfen, haben sich ARD und ZDF bisher kaum an solche Serien gewagt. Als deutsches Positivbeispiel gilt vor allem die mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnete Vox-Doku "Asternweg – Eine Straße ohne Ausweg", die zwischen 2014 und 2016 in Kaiserslautern gedreht wurde. "Der 'Asternweg' hätte eins zu eins bei uns stattfinden können, nicht nur weil er im SWR-Sendegebiet liegt", so Bitterling. "Aber damals war der SWR noch nicht so weit, mit anderen Erzählweisen zu experimentieren."
Insofern passte es gut ins Konzept, als Filmreif-TV-Chefredakteur Martin Spieker im vorigen Jahr bei Bitterling vorstellig wurde und ihm die Langzeitbeobachtung "Bayreuther Straße" vorschlug. Auch ein Moodtape und gründliche Vorrecherchen konnte die Produktionsfirma schon vorweisen. Spieker, zuvor Redaktionsleiter verschiedener RTL-Magazine und Factual-Chef bei Sat.1, hatte im Juni 2019 bei Filmreif TV angeheuert, wo diverse Reportagen und Dokus für Private wie Öffentlich-Rechtliche entstehen.
Gibt es so etwas wie einen spezifisch öffentlich-rechtlichen Weg der Sozialdoku? "Ich weiß nicht, ob wir diesen Weg gefunden haben. Zumindest suchen wir ihn", sagt der langjährige Privat-TV-Manager Spieker. "Wichtige Punkte dabei sind sicher der sensible und nicht wertende Umgang mit den Biografien der Menschen sowie die Wertschätzung ihrer Lebensleistung unter den oft sehr herausfordernden Umständen." Auftraggeber Bitterling lobt denn auch am bisher gedrehten Material, es zeige "die Hoffnung und den Zusammenhalt von Menschen, die so gut wie nichts haben – eine echte Solidargemeinschaft".
Hinter den Kulissen fällt ein wesentlicher Unterschied zu den Privatsender-Sozialdokus ins Auge, wo die Protagonisten meist eine Aufwandsentschädigung für ihre Mitwirkung erhalten. Nicht so bei der "Bayreuther Straße". "Wir haben in diesem Kontext ganz bewusst auf Honorare und Aufwandsentschädigungen verzichtet", so Spieker. "Es besteht immer die Gefahr, dass dadurch das filmische Ergebnis verfälscht wird. Wir wollen keinen Einfluss auf das nehmen, was passiert, sondern möglichst authentisch beobachten."
Die erste von sechs Folgen ist seit kurzem fertig geschnitten. Die komplette Serie wird laut Bitterling im November veröffentlicht – auch dies ungewöhnlich: Sie kommt zunächst in die ARD-Mediathek, später dann in die Donnerstags-Primetime des SWR Fernsehens.