Wenn ein Virus die Menschen mit Sorge erfüllt, steht offensichtlich auch das Einfallstor für Desinformation weit offen. Verschwörungstheoretiker wie US-Radiomoderator Alex Jones mit seiner berüchtigten Online-Plattform "InfoWars" rüsten derzeit wahlweise zum Widerstand gegen die Einschränkung der Bürgerrechte, vermuten eine geplante Manipulation der bevorstehenden Präsidentschaftswahl durch die Demokratische Partei oder analysieren die Rolle des von der Menschheit zu Unrecht vergessenen Teufels. Zum Geschäft wird das Ganze, wenn daneben Nahrungsergänzungsmittel zum Verkauf angeboten werden, die angeblich gegen eine Corona-Infektion helfen sollen.
Auch wenn die Wogen des Absurden hierzulande nicht ganz so hochschlagen, war die Warnung vor vermeintlichen "Fake News" schnell in der Debatte. Am 14. März wehrte sich das Bundesminsterium für Gesundheit bei Twitter mit dicken roten Ausrufungszeichen und dem Hinweis "Achtung Fake News" gegen die verbreitete Behauptung, die Bundesregierung würde bald "massive weitere Einschränkungen des öffentlichen Lebens" ankündigen. Eben diese erfolgten wenige Tage später bekanntlich doch. Kaum überraschend kassierte das Ministerium neben sachlicher Kritik auch gesteigerten Verschwörungsverdacht.
In Zeiten der Corona-Pandemie hat sich vor allem Facebook wortreich damit hervorgetan, "Fake News" den Kampf anzusagen. "Wir erlauben keine Inhalte, die eine unmittelbare Gefahr oder ein Risiko schaffen", gab CEO Mark Zuckerberg vor. Vorausgegangen waren auf seiner Plattform zahllose Falschbehauptungen wie etwa jene, dass man eine Corona-Infektion durch Trinken von viel Wasser oder giftigem Bleichmittel bekämpfen könne. Seit dem 19. März hat Facebook nun sein "Coronavirus-Informationszentrum" prominent ganz oben im Newsfeed platziert und bündelt dort vertrauenswürdige Informationen von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und nationalen Gesundheitsbehörden.
Kritik erntet Facebook dennoch weiterhin. "Wenn man nach 'Corona' sucht, findet man ganz oben akkurate Gesundheitsinformationen. Aber wenn man ein paar Level tiefer geht, findet man eben auch ziemlich absurde Dinge", sagt Brian Stelter, Medien-Chefkorrespondent des Nachrichtensenders CNN. "Am Frontend versuchen sie zu zeigen, dass sie in kritischen Momenten das Richtige tun. Aber die Plattform als Ganzes hat nach wie vor fundamentale strukturelle Probleme." Stelter hat sich mit dem Phänomen "Fake News" drei Jahre intensiv beschäftigt. Er ist ausführender Produzent des gerade in den USA erschienenen HBO-Dokumentarfilms "After Truth: Disinformation and the Cost of Fake News" von Regisseur Andrew Rossi. Systematisch wie nie zuvor kommen darin Anstifter und Opfer von gezielten Falschinformationskampagnen zu Wort sowie Journalisten und Wissenschaftler, die sich dem Aufdecken von "Fake News" gewidmet haben.
Weil schon der Begriff an sich in Verruf geraten und kaum noch neutral zu verwenden ist, hilft die klare Definition weiter, die Kommunikationswissenschaftler der Unis München und Wien in einer gemeinsamen "Fake News"-Studie von 2019 aufgeschrieben haben: "Falschmeldungen umgehen die Gatekeeper-Funktion des professionellen Journalismus, behandeln polarisierende, moralisch aufgeladene Themen, sind ideologisch und/oder ökonomisch motiviert, setzen auf eine hohe Verständlichkeit und zielen auf emotionale Reaktionen ab. Dies soll eine rasante Verbreitung über soziale Netzwerkseiten begünstigen."
Eine deutlich simplere Definition formuliert in dem Film der rechtskonservative Washingtoner Politikberater Jack Burkman: "Fake News sind Waffen, die sehr wirksam sind. Das ist wie mit chemischen Waffen im Krieg: Ich setze sie ein, weil ich weiß, dass die Gegenseite sie auch einsetzt." Burkman lässt sich von den Filmemachern offen dabei begleiten, wie er im Herbst 2018 eine Kampagne gegen den damaligen US-Sonderermittler Robert Mueller einstielt, der Verstrickungen zwischen Donald Trumps Wahlkampfteam und russischen Akteuren untersucht. Burkmans Mittel: falsche Beschuldigungen wegen sexueller Nötigung. Zu diesem Zweck setzt er eine Belohnung aus für Frauen, die sich mit Vorwürfen gegen Mueller melden. Eine Pressekonferenz, bei der Burkman und der rechtsextreme Verschwörungstheoretiker Jacob Wohl eine solche Frau präsentieren wollen, zeigt "After Truth" aus zwei verschiedenen Perspektiven: Aus Sicht der klassischen Medien, in diesem Fall "New York Times"-Reporter Adam Goldman, hat sich die Sache als Täuschung entlarvt, als die angekündigte Frau nicht auftaucht; er wird in seinem Blatt keine Zeile dazu schreiben. Doch Burkman und Wohl gehen nicht wie geprügelte Hunde vom Feld. Als sie nach der vermeintlichen Blamage ins Auto steigen, zeigt ihnen ein Blick auf Twitter, dass sie bereits Wirkung erzielen: "Hauptsache, wir trenden."
Natürlich taucht auch "InfoWars"-Macher Jones immer wieder auf, der mittlerweile von sämtlichen sozialen Netzwerken verbannt wurde. Er hatte seine Finger bereits im Frühjahr 2015 im Spiel bei einer Desinformationskampagne, die später von der CIA als erster Fall russischer Beeinflussung via Social Media identifiziert wurde. Eine Militärübung im texanischen Bastrop County führte damals zu der Verschwörungstheorie, Präsident Obama wolle im großen Stil politische Gegner gefangen nehmen und sie in leer stehenden Walmart-Filialen internieren. Ein weiterer tragischer Tiefpunkt ist im Herbst 2016 das sogenannte "Pizzagate". Die Washingtoner Pizzeria Comet Ping Pong – ebenso beliebt bei Politikern und Journalisten wie bei der LGBTQ-Community der Hauptstadt – steht auf einmal im Kreuzfeuer rechter Verschwörungstheoretiker. Weil sich in den gehackten E-Mails von Hillary Clintons Wahlkampfmanager John Podesta mehrere Kontakte mit Comet finden, zimmern einschlägige Foren daraus einen von Clinton angeführten Pädophilenring, der im Untergeschoss der Pizzeria Kinder missbrauche.
Einer der Protagonisten von "After Truth" ist Comet-Inhaber James Alefantis. Wie hoch die menschlichen und die geschäftlichen Kosten für "Fake News"-Opfer ausfallen können, verdeutlicht keiner so drastisch wie er. "Kurz vor der Wahl waren alle aufgeregt. Ich war sicher, das würde sich in ein paar Tagen erledigen", sagt der Wirt im Film. Das Gegenteil ist der Fall: Morddrohungen gegen ihn und seine Mitarbeiter sowie Aufforderungen zum Selbstmord nehmen täglich zu; auf der Online-Plattform Reddit wächst das "Pizzagate"-Forum innerhalb einer Woche auf 23.000 Mitglieder. Am 4. Dezember schließlich stürmt ein Familienvater und regelmäßiger "InfoWars"-Nutzer aus North Carolina die Pizzeria mit seinem Maschinengewehr, um die imaginären Kinder zu befreien. Zum Glück wird niemand verletzt. Alefantis ist am Boden, will sein Restaurant aufgeben. Von der Unterstützung seiner Stammgäste und der Entschlossenheit seiner Angestellten lässt er sich letztlich zum Weitermachen überreden. Kampagnen wie "Pizzagate" stuft das FBI seit 2019 offiziell als inländische terroristische Bedrohung ein.
In all diesen Fällen steht ein oftmals schwer zu entwirrender Mix aus politischen und ökonomischen Motiven hinter der gezielten Lancierung von Desinformationen. Nicht selten gehen dabei die Interessen vermeintlich wirrer Verschwörungstheoretiker, deren Geschäft auf Reichweite basiert, mit jenen von Bewegungen der politischen Ränder oder ausländischen Akteuren Hand in Hand. Immer extremere Narrative, so das Fazit des Films, sollen die Gesellschaft entzweien und damit jede Form von Einigung oder Kompromiss erschweren.
Das führt uns zurück zum Coronavirus. Denn nach aktuellen Erkenntnissen des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) werden längst auch bei uns "Fake News" rund um die Pandemie politisiert. Demnach sind seit Ende Januar 80 Fälle aufgedeckt worden, in denen gezielt Falschmeldungen in Deutschland, Italien, Spanien und Frankreich lanciert wurden – laut EAD eine "signifikante Desinformationskampagne von russischen Staatsmedien und Kreml-nahen Plattformen". Übergreifendes Ziel sei es, die "öffentliche Gesundheitskrise in den westlichen Ländern zu verschlimmern". Höchste Zeit also, das virtuelle Einfallstor für solche Waffen zu schließen. Aus Brüssel ist zu hören, dass die EU-Kommission die Online-Plattformen noch in diesem Jahr zu mehr Transparenz und Übernahme von Verantwortung verpflichten will – anstelle des bislang freiwilligen Verhaltenskodex. Für die Bundesregierung kündigte Innenstaatssekretär Markus Kerber im "Handelsblatt" zusätzliche "Eingriffe des Staates" an, um die Verbreitung von Desinformationen über soziale Netzwerke zu bekämpfen.
"After Truth: Disinformation and the Cost of Fake News" wird in Deutschland bei Sky laufen. Da derzeit jedoch der Synchronbetrieb eingestellt ist, steht der Zeitpunkt der Ausstrahlung noch nicht fest.