Die Ansammlung grauer Hangars direkt neben der Startbahn verströmt den nüchternen Charme des Provisorischen. Von Verspieltheit oder Glamour keine Spur. Auch wenn es nicht danach aussieht, hat hier, am City-Flughafen von Santa Monica, einer der wesentlichen Videoversorger der globalen Jugend sein Hauptquartier. Mehr als die Hälfte aller 13- bis 24-Jährigen in Deutschland sind regelmäßig auf Snapchat, in den USA sind es schon 90 Prozent. Zahlen, von denen Facebook in dieser Altersgruppe nur träumen kann.
Weil immer mehr von ihnen nicht nur die Videoposts ihrer Freunde, sondern auch professionell produzierte Inhalte anschauen, muss Sean Mills aufrüsten. "Wir werden nach und nach lokale Content-Teams in verschiedenen Ländern aufbauen, bald auch in Europa", sagt der Head of Original Content von Snap Inc. dem Medienmagazin DWDL.de. Mills hat mit seinem Team seit Oktober 2018 rund zwei Dutzend eigene Serien auf die Plattform gebracht, bislang ausschließlich US-Produktionen. Die sogenannten "Snap Originals" sind teils fiktionale, teils nonfiktionale Serien, deren Episoden etwa fünf Minuten lang sind und die speziell für die mobile Nutzung im vertikalen Format gedreht werden.
An Konsumenten über Mitte 20 mögen Serien wie "Endless Summer", "The Dead Girls Detective Agency" oder "Deep Creek" bisher vorbeigegangen sein, obwohl sie im vorigen Jahr nach Unternehmensangaben zwischen 14 und 28 Millionen Unique Viewer pro Staffel erreichten. Das bringt die vergleichsweise spitze Zielgruppe von Snap mit sich. Nach einer Analyse der Reichweiten folgerte der New Yorker "Observer": "Snapchat's original content is quietly becoming a streaming powerhouse." Dass das Wachstum im Stillen stattfindet, hat seine Gründe: Snap investiert nur einen Bruchteil dessen, was Netflix & Co. in ihre Serien stecken. Außerdem steht die App in erster Linie noch immer für Messaging unter Freunden, für Nachrichten und Videos, die nach kurzer Zeit verschwinden.

Der vorläufige Höhepunkt an interaktiver Verschränkung ist das Format "Bitmoji TV", das seit dem 1. Februar jeden Samstag mit einer neuen Folge auf Snapchat läuft. Die animierten Parodien gängiger TV- und Filmgenres von Casting-Shows bis Superhelden-Action haben einen besonderen Clou: In den Hauptrollen sieht jeder Nutzer seinen eigenen Bitmoji-Avatar sowie die seiner Freunde. Während Handlung und Dialoge für alle gleich bleiben, wird die jeweilige Animation dynamisch gerendert. Verpasst man seinem Avatar etwa ein neues Outfit, wird man diese Veränderung auch beim nächsten Aufruf einer "Bitmoji TV"-Episode sehen. Snap hatte den Bitmoji-Entwickler Bitstrips 2016 für rund 100 Millionen Dollar übernommen. Seither gehört es zu den wichtigsten Gimmicks der Plattform, dass Nutzer ihren eigenen Avatar in Form einer Comicfigur gestalten können. Da es sich bei der personalisierten Show um einen "experimentellen Prototyp" handele, werde die erste Staffel noch ohne Werbung ausgespielt, so Mills. Später sei es denkbar, die individuellen Avatare auch in dynamische Ads einzubeziehen.
"Bei fast allem, was wir ausprobieren, geht es darum, mit neuen Technologien und neuen Features die Art und Weise zu verändern, wie wir Geschichten erzählen"
Sean Mills, Head of Original Content, Snap
"Bei fast allem, was wir ausprobieren, geht es darum, mit neuen Technologien und neuen Features die Art und Weise zu verändern, wie wir Geschichten erzählen", sagt der frühere Chef der Online-Medienmarken "NowThis" und "The Onion", der 2015 bei Snap anheuerte. Im Austausch mit gestandenen Filmemachern und Produzenten erlebe er inzwischen eine große Offenheit und Lernbereitschaft, was die spezielle Grammatik der mobilen Plattform angehe. Zu den Grundregeln von Snap zählen neben der vertikalen Ausrichtung eine abwechslungsreiche Ausnutzung des Bildschirms, etwa in Form von Split Screens, und das entsprechende Framing: nah, persönlich, temporeich statt weit und cineastisch.
Comedy-Spezialist Paul Feig ("Bridesmaids", "Ghostbusters") steuert in Kürze die neue Serie "Everything's Fine" bei, die aus dem mitunter chaotischen Alltag einer angehenden Musikmanagerin mit bipolarer Störung erzählen soll. Seit Anfang Februar steht die erste Staffel der Thriller-Serie "Save Me" von "Stargate Origins"-Regisseurin Mercedes Bryce Morgan in der App. Darin macht sich ein Teenager auf die Suche nach einer verschwundenen Mitschülerin und stößt dabei auf eine geheime Sekte, die digitale Kommunikation verbannen will. Der Mystery-Hit "The Dead Girls Detective Agency" – junge Menschen, die plötzlich aus dem Leben gerissen wurden, untersuchen aus dem Jenseits die Umstände ihres eigenen Todes – läuft bereits in der vierten Staffel, produziert von Indigo Development und Entertainment Arts, einem Joint Venture von Snap und NBC Universal.


Die Monetarisierung der Videoformate erfolgt in erster Linie durch sogenannte "Commercials", sechssekündige Unterbrecher-Werbespots, die sich nicht skippen lassen. Publishing-Partner werden an den Erlösen ihrer Videos beteiligt, während Produzenten von "Snap Originals" eine Lizenzzahlung erhalten. Dank Werbung und Sponsoring konnte Snap seinen Umsatz im Jahr 2019 um 45 Prozent auf 1,72 Milliarden Dollar steigern, während der Nettoverlust um 18 Prozent auf 1,03 Milliarden Dollar sank. Bevor Sean Mills hierzulande Originals in Auftrag gibt, will Rami Saad in den nächsten Monaten ein paar weitere deutsche "Discover"-Partner auf die Plattform holen. Das Wachstum vollzieht sich deutlich langsamer als bei offenen Plattformen, wo Medien einfach einen Channel eröffnen können. "Unsere jungen Nutzer empfinden ihren Feed als ähnlich kostbar wie viele Ältere die Sendezeit im TV", so Saad. "Deshalb verlesen wir unsere Partner sorgfältig von Hand, ungefähr so, wie man seine besten Freunde aussuchen würde."