Der Satz, mit dem Martin Krapf seine Gäste am Frankfurter Flughafen empfängt, spricht Bände. "Manchmal frage ich mich, welchen Daten ich überhaupt noch glauben kann", sagt der Geschäftsführer von Screenforce, der gemeinsamen Gattungsmarketing-Initiative der TV-Vermarkter. Für ein Expertenforum, bei dem es um Studien zum rasant wachsenden Video-on-Demand-Markt gehen soll, ist diese Einleitung von entwaffnender Ehrlichkeit.

Wer sich mit den verfügbaren Zahlen beschäftigt, wird Krapf zustimmen müssen. Eine regelrechte Flut neuer Studien aus den unterschiedlichsten Richtungen trifft auf eine Gemengelage, in der die übergreifende Messung von TV- und Streaming-Reichweiten noch immer suboptimal läuft und die größten Abo-Anbieter wie Netflix oder Amazon sich ohnehin nicht allzu tief in die Karten blicken lassen. Immerhin gibt es eine Aussage, die mehrere Studien eint: Trotz dramatischer Verschiebungen ist für die TV-Sender noch nicht alle Hoffnung verloren.

22,2 Millionen Deutsche ab 14 Jahren haben im zweiten Quartal 2019 kostenpflichtige Streaming-Plattformen genutzt, weiß Krapfs erster Experte, Christoph Freier, zu berichten. Deren durchschnittliche Nutzung lag bei 16,3 Stunden im Monat. Freier ist Director Media & Entertainment beim Marktforscher GfK und dort für die Consumer Panels verantwortlich. Das Nürnberger Unternehmen, das seit 1985 die täglichen Einschaltquoten im Fernsehen misst, hat sich dem Trend angepasst: Mit dem "GfK SVoD-Tracker" lässt Freier seit vorigem Jahr die Nutzung von Subscription-Video-on-Demand-Anbietern erheben. Seit Anfang Oktober ist das Panel auf 3.000 Teilnehmer angewachsen, die das Verhalten innerhalb von Streaming-Abos repräsentativ abbilden und kontinuierlich berichten, welche Serien und Filme sie auf welcher Plattform sehen.

Dank Netflix & Co. hat der deutsche Home-Video-Markt im ersten Halbjahr laut Freier erstmals die Milliarden-Umsatzmarke überschritten. 1,054 Milliarden Euro gaben die Konsumenten demnach insgesamt aus – 70 Prozent davon für digitale Formate und davon wiederum stolze vier Fünftel für Abos. In den letzten fünf Jahren hat sich der Digitalanteil damit verdreifacht. Im Vergleich zum ersten Halbjahr 2018 stieg der digitale Umsatz um 32 Prozent, während der physische mit DVDs und Blu-rays um 20 Prozent sank. Wies die GfK 2015 noch Amazon, Media Markt und Saturn als umsatzstärkste Händler im Home-Video-Markt aus, so steht heute Netflix an der Spitze, vor Amazon auf dem zweiten und einem weit abgeschlagenen Media Markt auf dem dritten Platz.

Angesichts neuer globaler Herausforderer wie Apple TV+, Disney+ oder HBO Max sieht Freier jedoch auch Netflix unter Druck – und begründet das mit Zahlen aus seinem SVoD-Tracker. Netflix-Eigenproduktionen hatten demnach einen Anteil von 43 Prozent an der gesamten Netflix-Sehzeit im zweiten Quartal. Nur auf Serien bezogen, lag der Anteil bei 50 Prozent, für Filme bei lediglich 23 Prozent. "Netflix muss zunehmend alleine zurechtkommen, wenn die großen Studios ihre Inhalte für sich behalten", so Freier. Ob dabei die Nutzungsanteile der populärsten Fremdware voll ersetzt werden könnten, sei keine ausgemachte Sache.

"Deutsche TV-Anbieter haben im nonlinearen Entertainment weitreichenden Aufholbedarf"

Prof. Dr. Thorsten Hennig-Thurau, Uni Münster

 

Ob die bevorstehende Fragmentierung im Streaming eine Chance für deutsche Sender bedeuten kann, wird auch außerhalb des Screenforce-Expertenforums heftig diskutiert. "Im Streaming-Bereich haben die Sender in den vergangenen Jahren den Anschluss verloren", warnt Niko Herborg, Principal der Unternehmensberatung Roland Berger. "Amerikanische Dienste dominieren heute den deutschen Markt – und gefährden in Zukunft das Überleben der linearen TV-Sender." Herborg hat gemeinsam mit Thorsten Hennig-Thurau, Professor für Marketing und Medien an der Uni Münster, eine repräsentative Befragung der 16- bis 69-jährigen Konsumenten durchführen lassen. Diese ergab, dass das Zeitbudget für audiovisuelle Medien zu 24 Prozent für abo-pflichtiges Streaming genutzt wird, zu 54 Prozent für lineares Free-TV. Bei den 16- bis 29-Jährigen sind es dagegen 41 Prozent für SVoD und 34 Prozent fürs Free-TV.

Vor allem fällt ins Auge, was die Befragten sagen, wenn sie ihre Nutzungszeit für einzelne Kanäle nennen sollen – völlig unabhängig von Distributionsform und Geschäftsmodell. Über alle Kanäle hinweg verbringen sie laut Studie mehr Zeit mit Netflix als mit irgendeinem TV-Sender. Über alle Zuschauer hinweg entfallen 10,3 Prozent der Sehzeit auf Netflix – vor RTL (10,0 Prozent), ZDF (9,8 Prozent), ARD (8,8 Prozent) und Amazon (8,7 Prozent). Bei den 16- bis 29-Jährigen führt Netflix mit 28,0 Prozent vor YouTube (13,5 Prozent), Amazon (9,3 Prozent), ProSieben (9,2 Prozent) und RTL (6,8 Prozent). Was TV-Managern zu denken geben dürfte, ist auch die Bewertung verschiedener Kompetenzen durch die Befragten. Während knapp 60 Prozent der unter 30-jährigen Zuschauer die Eigenproduktionen von Netflix und jeweils über 40 Prozent jene von Disney und Warner für "sehr attraktiv" halten, erreicht hier außer ProSieben kein Free-TV-Sender die 10-Prozent-Marke. Auch bei der Einschätzung von technologischer Kompetenz und Vertrauenswürdigkeit sind die deutschen Sender abgeschlagen.

"Deutsche TV-Anbieter haben im nonlinearen Entertainment weitreichenden Aufholbedarf in den Bereichen Content, Distribution und auch Monetarisierung", so Marketing-Professor Hennig-Thurau. "Sie können es nur schaffen, wenn sie radikale Schritte in ihrer Investitionsstrategie, ihrer Organisationsstruktur und Unternehmenskultur vornehmen. Letztlich müssen sie nichts weniger schaffen, als sich von ihrer bisherigen Rolle als Sender zu verabschieden und sich als Player in einem viel stärker umkämpften Wettbewerb mit neuen Regeln wiederzufinden."

"In erster Linie sollten die Sender jetzt aktiv gestalten und die Nutzer durch innovative Produktionen begeistern"

Prof. Dr. Anna Schneider, Hochschule Fresenius


Eine Spur optimistischer klingt es, wenn man Anna Schneider fragt. Die Professorin für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Fresenius betont den Trend zu immer mehr mobiler Videonutzung im Hochformat. "Dieses Nutzungsverhalten kann die große Chance für traditionelle Fernsehsender sein", so Schneider. "Gerade jungen Zielgruppen fehlt offensichtlich noch der Zugang zu den etablierten Mediatheken. Die öffentlich-rechtlichen Sender können über das Smartphone ihre lokale Stärke und das Vertrauen in ihre journalistische Arbeit ausspielen." Zusammen mit dem Wissenschaftlichen Institut für Infrastruktur und Kommunikationsdienste (WIK) hat Schneider die Videostreaming-Nutzung zum wiederholten Mal unter die Lupe genommen. Demnach hat sich der Anteil deutscher Konsumenten, die Bewegtbild nur noch über internetbasierte Dienste nutzen, seit 2015 verdoppelt – von 12 auf 24 Prozent aller Erwachsenen.

Bei den kumulierten Nutzerzahlen liegen laut Fresenius-Studie vier Plattformen in etwa gleich auf: Amazon Prime mit 16,8 Millionen deutschen Nutzern, die ARD-Mediathek mit 16,3 Millionen, Netflix mit 14,4 und die ZDF-Mediathek mit 14,2 Millionen. Allerdings verläuft die Altersverteilung sehr unterschiedlich: Während mehr als die Hälfte aller 18- bis 24-Jährigen Netflix oder Amazon nutzt, kommen die öffentlich-rechtlichen Mediatheken in dieser Altersgruppe bestenfalls auf bis zu 20 Prozent. Schneiders Fazit: "In erster Linie sollten die Fernsehsender jetzt aktiv gestalten und die Nutzer durch innovative Produktionen und regionale Bezüge im Hosentaschenformat begeistern. Das ist quasi 'Heimat to go'."

Auch beim Screenforce-Expertenforum am Frankfurter Flughafen bestreitet niemand die klar erkennbare Trendrichtung. Gerald Neumüller, Forschungschef des ProSiebenSat.1-Vermarkters SevenOne Media, weiß aus seinem "Media Activity Guide" zu berichten, dass der durchschnittliche Online-Video-Konsum der 14- bis 69-Jährigen seit 2015 von 13 auf 47 Minuten pro Tag gestiegen sei. In seiner Grafik stehen daneben rot hervorgehoben die 236 Minuten, die noch immer aufs lineare TV entfallen. Laut SevenOne-"ViewTime Report" nutzten im zweiten Quartal 84 Prozent der Bevölkerung TV, 60 Prozent AVoD-Dienste wie YouTube, 41 Prozent Sender-Mediatheken und 34 Prozent SVoD-Angebote wie Netflix.

Zwar nehme die SVoD-Nutzung weiter zu, doch das Wachstumstempo habe sich seit 2017 abgeschwächt, so Neumüller. Aus TV-Sicht ebenfalls erfreulich: Wer einmal SVoD-Abonnent sei, bleibe dem linearen Fernsehen dennoch treu. Demnach stehen in dieser Gruppe 54 Minuten tägliche Nutzungsdauer für Netflix & Co. immerhin noch 123 Minuten klassisches TV plus 25 Minuten Sender-Mediatheken gegenüber. Möglicherweise hat Screenforce-Chef Martin Krapf das im Hinterkopf, als er seinem Einleitungssatz schmunzelnd hinzufügt: "Manchen Daten möchte ich natürlich lieber glauben als anderen."