Wie sich ein TV-Konzern von heute das Werbegeschäft von morgen vorstellt, war diese Woche im Festivalpalais von Cannes plastisch zu erleben. Größer und häufiger hätte man das Schlagwort "Storytelling" wohl kaum unterbringen können, als NBCUniversal es an seinen Ständen tat. Werbekunden und Agenturvertreter bekamen zu sehen, wie sie ihre Marken noch dichter ans Programm rücken und in ihren Werbeformen vom Storytelling der Programmprofis profitieren können.
Dazu hatte man eigens die Executive Producer von "Saturday Night Live", "The Voice" oder "Songland" eingeflogen, die geduldig ihre Marketing-Potenziale erläuterten. Neben der menschlichen Unterstützung wurde auch die technische Innovation demonstriert: etwa ein neues Bild-in-Bild-Placement-Tool, mit dem sich Anzeigen- oder Plakatmotive ins laufende Programm integrieren lassen, oder eine KI-Anwendung, die anhand von 15.000 Drehbüchern darauf trainiert wurde, die relevantesten Momente einer Serie für bestimmte Werbebotschaften zu identifizieren. Der Ideal-Pitch lief nicht nur bei NBCUniversal auf die Formel "Hollywood meets Silicon Valley" oder "Storytelling meets Big Data" hinaus.
Jenseits des Ideals wurde freilich deutlich, dass die schöne neue Werbewelt mit vernetztem, adressierbarem, datengetriebenem Fernsehen selbst im US-Markt noch weitgehend Zukunftsmusik ist. "Unsere größte Hürde liegt in der Reichweitenmessung", gab Linda Yaccarino, Chairman of Advertising & Client Partnerships bei NBCUniversal, unumwunden zu. "Die Zahlen, die wir haben, bilden das Zuschauerverhalten nicht mehr ganzheitlich ab. Die lineare Einschaltquote von 'SNL' mag letzten Samstag zehn Prozent gesunken sein. Trotzdem hatten Sie ein oder zwei Sketche aus der Sendung garantiert in Ihrem Feed, zum Beispiel via YouTube. Es fehlt einfach immer noch an einer verlässlichen Cross-Platform-Währung."
Bei einem Panel des Adtech-Anbieters The Trade Desk im Rahmen der Cannes Lions waren sich die NBC-Vermarkterin und der größte Werbekunde der Welt immerhin in dem enormen Potenzial von Connected TV und Addressable TV einig: "Connected TV ist vermutlich am besten aufgestellt, um mit seiner Kombination aus Reichweite und Transparenz spürbaren Druck auf die Walled-Garden-Systeme von Facebook, Google & Co. auszuüben", prognostizierte Eric Austin, der bei Procter & Gamble die Abteilung Global Brand Building & Media Innovation leitet. Kräftig Öl ins Feuer goss Tim Castree, CEO der weltgrößten Media-Agentur-Holding GroupM, mit seinem Hinweis, dass auch künftig das Streben nach möglichst großer Reichweite im Vordergrund stehen müsse und TV sich nicht nur als Targeting-Medium definieren dürfe.
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"Addressable TV heißt aus meiner Sicht, dass hier und da Spot-Motive ausgetauscht oder regional verschiedene Botschaften integriert werden, aber dadurch werden sicher nicht lauter neue Nischenmärkte entstehen", so Castree. "Procter & Gamble will seine Konsumgüter nämlich auch in Zukunft in möglichst großer Stückzahl verkaufen. Die großen Werbekunden werden im TV dominant bleiben. Vielleicht wird ein bisschen mehr Mittelstand dazukommen, aber der wird für seine Bedürfnisse bei Facebook und Google gut bedient."

Im US-Markt seien 2018 rund zwei Milliarden Dollar mit linearem Addressable TV und rund drei Milliarden Dollar mit Addressable TV via OTT-Plattformen erlöst worden – beides noch kleine Fische angesichts eines klassischen TV-Werbevolumens von rund 80 Milliarden. Interessant seien jedoch die prognostizierten Wachstumsraten bis 2020: auf "nur" etwa drei Milliarden im Linearen, aber über fünf Milliarden im OTT. "Wer dieses Potenzial geschickt für sich nutzt, kann seinen Kundenkreis erheblich erweitern", so Buckley. Facebook habe global rund sieben Millionen aktive Werbekunden, die nationalen TV-Vermarkter in den USA allenfalls 7.000. "Addressable TV kann das aufbrechen und den Markt öffnen."

Und dann fiel im Rahmen einer YouTube-Präsentation tatsächlich noch ein Statement, das man von einer daten- und algorithmengesteuerten Plattform nicht unbedingt erwartet hätte: "Wir sind derzeit alle ein bisschen zu besoffen von Daten", sagte Ben Jones, Global Creative Director der YouTube-Mutter Google. "Daten helfen uns aber nur, wenn wir auch eine Story zu erzählen haben. Sonst riskieren wir nämlich, dass die Werbung, die wir ausspielen, künftig vor allem eines ist: relevant as hell – boring as fuck."