Dass die Festivaljury am Wochenende in Lille „The Virtues“ zur besten Serie des Jahres und deren Haupdarsteller Stephen Graham zum besten Schauspieler kürte, unterstreicht einen unübersehbaren Trend: Zerbrochene und zerbrechende Familien, das Ringen um Liebe und Wiedergutmachung zwischen Eltern und Kindern ziehen sich aktuell als Leitmotiv durch eine Vielzahl neuer europäischer Serien. Für das sechsköpfige Fachgremium unter Vorsitz von „Buffy“- und „Sharp Objects“-Showrunnerin Marti Noxon, dem auch die Schauspielerin Julianna Margulies („The Good Wife“) angehörte, lag „The Virtues“ dabei ganz vorn.
Geschrieben von Shane Meadows und Jack Thorne, erzählt der britische Vierteiler auf eindringliche Weise die Geschichte des einsamen, alkoholkranken Jack (Graham), der nach Irland reist, um sich dort den Schatten seiner verdrängten Vergangenheit zwischen Kinder- und Jugendheimen zu stellen. „Vom ersten Bild an bewegt ‚The Virtues‘ mit seiner tiefen Menschlichkeit“, so die Jury. „Meisterhaft inszeniert, geschrieben und gespielt, ist es ein erstklassiges Beispiel für die Kraft von Serien, Empathie zu erzeugen.“ Die Produktion von Warp Films („The Last Panthers“) feiert ihre TV-Premiere demnächst bei Channel 4 und wird international von ITV Studios Global Entertainment vertrieben.
Einen Spezialpreis vergab die Jury an die israelische Serie „Just for Today“ von Nir Bergman („In Treatment“), die das Strafvollzugssystem in Israel kritisch unter die Lupe nimmt und von der Schließung eines Rehabilitationszentrums sowie den Auswirkungen auf Ex-Insassen und Sozialarbeiter erzählt. Zu den Siegern der Series Mania, die bereits ihr zehnjähriges Jubiläum feierte, darf sich auch der französische Sechsteiler „Mytho“ zählen, in dem Marina Hands („Taboo“) die aufopfernde Mutter und Ehefrau Elvira spielt, die auf der Suche nach Anerkennung eine Brustkrebserkrankung erfindet und sich im Netz ihrer Lügen verheddert. Von der Jury erhielt Hands den Preis als beste Schauspielerin, vom Publikum wurde „Mytho“ zur beliebtesten Serie des Festivals gekürt. Die von Anne Berest geschriebene und von Fabrice Gobert inszenierte Dramedy wird in Deutschland und Frankreich bei Arte laufen, im Rest der Welt auf Netflix.

Dass es mit diesen Trends in den nächsten Jahren noch weitergehen dürfte, legten jene 16 Serienprojekte in Entwicklung nahe, die das Festival aus über 400 Einreichungen ausgewählt hatte, damit ihre Macher sie potenziellen Koproduktions- und Vertriebspartnern aus anderen Ländern pitchen konnten. Die norwegische Produktionsfirma Maipo Film etwa präsentierte die Idee zum Sci-Fi-Thriller „The Fortress“, der das Szenario eines Mauerbaus rund um Norwegen durchspielen soll: Was zunächst ein unabhängiges Leben in Frieden und Sicherheit zu garantieren scheint, entpuppt sich beim Ausbruch einer Epidemie als tödliche Falle. Die all3media-Tochter Studio Lambert war mit dem britischen Thriller-Sechsteiler „Influence“ vertreten, in dem die Tochter eines prominenten Social-Media-Influencers, Teil der „Fathers of Instagram“, spurlos verschwindet. Autor Thomas Martin („Tin Star“) will nach eigenen Angaben die „Überforderung und Hilflosigkeit eines jungen Vaters“ beleuchten.
