Wie das beim Fernsehen halt so ist: Von der Wurst zur Macht sind es nur wenige Schritte. Zumindest in den CCC-Filmstudios in Berlin-Haselhorst, wo seit einigen Wochen der ehrgeizige Plan verfolgt wird, den Vorabend von Sat.1 zu retten. Mal wieder. Draußen donnert EasyJet im Landeanflug über die knallrot getünchten Filmstudiohallen aus den 50er Jahren, in denen schon Regielegende Fritz Lang gedreht hat („Der Tiger von Eschnapur“). Drinnen läuft Produzent Christian Popp vom Currywurst-Imbiss der nachgebauten U-Bahn-Station direkt ins Mahagoni-Attrappe-gewordene Protzbüro des erfundenen Immobilienmagnaten Brock. Und erinnert sich: „Das war knallhart.“
Knallhart nämlich, weil gerade einmal anderthalb Monate Zeit blieben, um all das hier hinzubauen, die Idee von „Alles oder Nichts“ in die Tat umzusetzen – und erstmals seit vielen Jahren bei Sat.1 wieder eine tägliche Serie im Programm zu etablieren - ab heute Abend.
Popps Firma Producers at Work hat sich im Sommer beim Sender gegen die Pitches von drei Mitbewerbern durchgesetzt, nach dem Zuschlag in Haselhorst eingemietet und Mitte August zu drehen begonnen. Dem Blitzstart zum Trotz liegt die Produktion gut in der Zeit: Zum Sendestart an diesem Montag sind 30 fertige Folgen in Reserve. Im Hintergrund arbeiten die Autoren bereits an Episode 75. Jetzt müssen bloß noch die Zuschauer einschalten – anders als beim Vorläufer „Mila“, der im Herbst 2015 ziemlich abrupt wieder vom Sender genommen wurde, weil er nicht sofort zum Hit wurde (DWDL.de berichtete).
"Wir bieten eine klare Alternative zu vielem, was sonst am Vorabend läuft."
Christian Popp, Producers at Work
Popp ist sicher: Das wird diesmal nicht passieren. Weil „Alles oder Nichts“ anders aussieht als die Serien der Konkurrenz; und ganz, ganz anders als das, womit Sat.1 zuletzt versucht hat, sich ein Stammpublikum am Vorabend aufzubauen. „Das Bedürfnis, sich lauter zu äußern, ist in den vergangenen Jahren wieder größer geworden. Ich will das gar nicht politisch bewerten, glaube aber, dass wir mit ‚Alles oder Nichts‘ den Zeitgeist treffen“, sagt Popp. „Wir bieten damit eine klare Alternative zu vielem, was sonst im deutschen Fernsehen am Vorabend läuft.“
Anstatt sich auf eine Hauptprotagonistin zu konzentrieren, erzählt „Alles oder Nichts“ Geschichten aus der Perspektive mehrerer Charaktere – noch dazu aus zwei völlig unterschiedlichen Welten. Drei Underdogs erfahren, dass ihnen ihr bis dahin unbekannter Vater nach seinem plötzlichen Tod einen Teil seines Immobilienimperiums vererbt. Während das Trio noch Mühe hat, die überraschenden Informationen zu begreifen, arbeitet der Firmen-Clan bereits eifrig daran, den unerwünschten Familienzuwachs schnellstmöglich wieder loszuwerden.
Tschüssi, Hochglanzhauptstadt
Das ist – zumindest zum Auftakt – vielleicht keine Neuerfindung des Genres, aber durchaus unterhaltsam inszeniert. Und vor allem: lauter, schmutziger, direkter als die Träumereien in Serie, die Sat.1 zuletzt aus der imaginären Hochglanzhauptstadt erzählt hat. In „Alles oder Nichts“ glänzt nur der Luxus der Reichen; die Erben müssen sich jeden Euro hart erkämpfen. Jenni hat Stress mit der Familie, Anja mit ihrem geldgeilen Macker, Daniel lebt auf der Straße und nächtigt unter der Brücke. Produzent Popp erklärt: „Im Grunde genommen ist ‚Alles oder Nichts‘ eine klassische Daily Soap – allerdings mit Charakteren und Typen, die in solchen Serien sonst eher nicht auftauchen.“
Auch diese Abwechslung soll die Zuschauer überzeugen – obwohl Popp doch eigentlich Telenovela-Spezialist ist, den ehemaligen Sat.1-Erfolg „Verliebt in Berlin“ mitverantwortete und vier Jahre „Anna und die Liebe“ produzierte. Warum hat er sich diesmal für die andere Genre-Variante entschieden? Popp erklärt: „Telenovelas sind in ihrer Zielgruppe sehr spitz: Wenn ich als Zuschauer keine Liebesgeschichte aus der Sicht einer jungen Frau sehen möchte, schalte ich ab. Mit ‚Alles oder Nichts‘ machen wir dem Publikum ein sehr viel breiteres Angebot an Geschichten, bei denen ganz unterschiedliche Zielgruppen angesprochen werden.“
Eine Liebesgeschichte gibt es natürlich trotzdem. „Liebe, Drama, Intrige, Humor – all das zeichnet eine gute Daily Soap schon immer aus“, sagt Popp. Im Mittelpunkt stehen aber die drei Aufsteigergeschichten und die Erzählung davon, wie unterschiedlich Menschen mit plötzlichem Reichtum umgehen. Vor allem, wenn ihnen die Kohle direkt wieder weggenommen werden soll.
Graffiti-Fliesen und Büropalast
Der Ansatz ist Chance und Risiko zugleich. Weil Sat.1 damit auch Zuschauer erreichen kann (und muss), die man auf dem Sendeplatz um 18.30 Uhr über viele Jahre eher nicht im Fokus hatte. Und während der Titel der neuen Daily zwar den Kern der Geschichte trifft, aber doch arg verwechselbar geraten ist, sieht man der Produktion ihre eigene Ästhetik ziemlich schnell an.
Die Sets, an denen sich die weniger gut betuchten Charaktere treffen, sind eng und schmuddelig, die Wohnung von Jennis Familie ist ausgestattet mit Alptraumschrankwand und Fliesentisch; und im täuschend echt nachgebauten U-Bahnhof sind die grünen Kacheln so sehr mit Graffiti verschmiert, dass es nicht lange dauern kann, bis die Berliner Verkehrsbetriebe nach Sendestart darauf hinweisen, ihre Stationen in der Realität sehr viel sauberer zu halten.
Das Penthouse der Familie Brock ist dagegen ein Palast und so riesig, dass die Kamera beim Dreh aufpassen muss, nicht darin verloren zugehen; im Hintergrund der edlen Geschäftsräume der Brock AG schimmert eine riesige Stadt, die mit ihren Häuserschluchten nur sehr entfernt an das echte Berlin erinnert. Übertrieben? Ja, absichtlich.
„Uns war sehr wichtig, in diesen Sets eine gewisse Wertigkeit zu demonstrieren – durch den enormen Platz, die edle Einrichtung, den glänzenden Boden. Das ist für den Studiobetrieb durchaus eine Herausforderung, weil sich beim Dreh ständig alles spiegelt. Aber das ist der Preis, den wir zu zahlen bereit sind, um ‚bigger than life‘ zu wirken“, erklärt Produzent Popp die Arbeit seines Szenenbildners Olaf Schiefner. Der hatte im wahrsten Sinne des Wortes ordentlich Luft nach oben in den 18 Metern hohen Hallen des Filmstudios, die Artur Brauner hier Anfang er 50er Jahre für seine Firma CCC-Film bauen ließ – und von denen schon öfter gesagt wurde, sie hätten ihre besten Zeiten längst hinter sich gelassen.
Dicke Wände, große Hoffnungen
Bis das Fernsehen auftauchte: In den 90ern drehte „Im Namen des Gesetztes“ hier, auch die ZDF-Reihe „KDD“ entstand zwischen den meterdicken Wänden, die trotz der unglücklichen Lage in der Einflugschneise des Berliner Flughafens Tegel für hundertprozentige Tonsicherheit sorgen, wie Popp erklärt. Inzwischen kümmert sich Artur Brauners Tochter Alice um die Studios und holte die Produktion der ersten deutschen Netflix-Serie „Dark“ nach Haselhorst. Jetzt hofft Popp, sich auf den 1.800 Quadratmetern längerfristig einrichten zu können. („Wir sind die ersten, die dieses Studio für die Produktion einer täglichen Serie benutzen.“)
Eins ist klar, sagt der Produzent: „Wir wollen mit ‚Alles oder Nichts‘ auffallen – und das geht nicht, wenn wir lediglich die Erwartungen erfüllen, mit denen die Zuschauern rechnen.“ Wie die Protagonisten aus „Alles oder Nichts“ haben Sender und Produktionsfirma dieses Schicksal freilich nur bedingt in der eignen Hand. Aber irgendwer hat in die Kulisse des schicken Clubs, wo sich der Immobilien-Clan in der Serie zum Trinken, Tanzen und Streiten trifft, geistesgegenwärtig ein paar Weisheiten an die beleuchtete Barwand illustriert, die nicht nur zur Geschichte der fiktiven Charaktere passen.
Da steht: „Wer an nichts glaubt, verzweifelt an sich“, „Alles ist gut, so lange du wild bist“ und „Wirklich reich ist der, der mehr Träume in seiner Seele hat, als die Wirklichkeit zerstören kann“. Prosaischer kann man Sat.1 vermutlich gerade nicht zusammenfassen.
Sat.1 zeigt „Alles oder Nichts“ werktäglich um 18.30 Uhr. Die ersten fünf Folgen lassen sich bereits online ansehen.