Platzt die Serienblase oder platzt sie nicht? Zwar wurde diese Frage auf der Séries Mania heiß diskutiert, doch das Festival selbst gab eine erfreulich klare Antwort: In Europa geht es weiter steil aufwärts – mit noch mehr und noch besseren Serien, die 2017/18 zu einem herausragenden Jahrgang machen dürften.
Wenn ein Mann an der Spitze der Bewegung steht, dann ist es zweifellos Adam Price. Der dänische Showrunner, Fernsehkoch und Schöpfer von „Borgen“ feierte in Paris die Weltpremiere seiner neuen Serie „Ride Upon the Storm“ – mit endlosen Schlangen vor den Kinos. Die waren durchaus gerechtfertigt: Kurz gesagt, definiert Price mit seinem Werk über Religion und Glauben erneut eine eigene Liga von Qualitätsfernsehen.
„Es gibt verschiedene Motivationen fürs Schreiben. Bei mir war es diesmal ganz klar Neugier“, so Price kurz vor der Premiere, die ihn nach eigener Auskunft mit Nervosität erfüllte. „In diesen Zeiten ist es doch fast schon politischer, eine Serie über Religion als eine über Politik zu schreiben. Wenn wir über Integration, Immigration, Terrorismus und Geopolitik diskutieren, haben wir es immer auch mit Fragen der Religion zu tun.“ Ihn fasziniere der Widerspruch zwischen der Selbsteinschätzung einer säkularen Gesellschaft in Dänemark sowie weiten Teilen Europas und vielen alltäglichen Kleinigkeiten, die eine andere Sprache sprechen: „Wir haben ein Kreuz auf unserer Flagge und auf unserem Pass. Unser Parlament wird mit einem Gebet eröffnet. Und die Königin sagt am Ende ihrer Reden: Gott schütze Dänemark. Religion ist ein wichtiger Teil unseres Lebens – ob wir’s mögen oder nicht.“
Price verhandelt das komplexe Thema einmal mehr als Familiengeschichte. Stand bei „Borgen“ das Mutter-Tochter-Verhältnis im Mittelpunkt, so ist es diesmal das zwischen einem Vater und seinen Söhnen. „Ride Upon the Storm“ – im dänischen Original „Herrens Veje“, „die Wege des Herrn“ – erzählt die Kain-und-Abel-Geschichte zweier Brüder, die sich gegenüber ihrem Vater, dem ebenso gottgleichen wie tyrannischen Priester Johannes (Lars Mikkelsen), behaupten müssen. DR, das öffentlich-rechtliche dänische Fernsehen, stellt die Serie erstmals in Koproduktion mit Arte, Studiocanal und Price’ Produktionsfirma SAM her. Die erste Staffel mit zehn Folgen läuft im Herbst, eine zweite Staffel für Herbst 2018 ist bereits bestellt. Zweieinhalb Jahre hat die Entwicklung gedauert. Die ersten sechs Monate arbeitete Price allein, eher er wie bei „Borgen“ einen kleinen Writers’ Room mit den Kollegen Karina Dam und Poul Berg aufbaute. Gemeinsam entstanden die ersten 14 Folgen, die letzten sechs schreiben Price und Dam nun zu zweit.
Im Gastgeberland Frankreich sind es vor allem ein paar jüngere Produktionsfirmen, die den kreativen Ton angeben. Allen voran das vor vier Jahren von Produzent Pascal Breton gegründete Federation Entertainment, das in Kürze die zweite Staffel der Netflix-Serie „Marseille“ dreht. Als Koproduzent und Weltvertrieb hat Federation derzeit mit rund 40 europäischen Produktionsfirmen insgesamt 82 Serienprojekte in Entwicklung. Die französische FremantleMedia-Tochter Kwaï wiederum stellte als Weltpremiere im Wettbewerb ihre neue von Simon Jablonka und Alexis Le Sec geschriebene Arte-Serie „Kim Kong“ vor. Eine originelle Comedy mit politischer Botschaft über den Irrsinn des Totalitarismus: Mathieu, erfolgreicher Filmregisseur, wird von Agenten einer asiatischen Diktaktur entführt und zu einer Neuverfilmung von „King Kong“ nach dem Drehbuch des filmverrückten Diktators gezwungen. Ähnlichkeiten mit realen nordkoreanischen Machthabern sind vermutlich purer Zufall.
Hohe Erwartungen hat Kwaï auch mit der zweiten Staffel der Politserie „Baron Noir“ zu erfüllen, deren Dreharbeiten Anfang Mail beginnen. Die erste Staffel hatte sich in 30 Länder verkauft. Kein leichtes Unterfangen, wie Produzent Thomas Bourguignon auf der Séries Mania einräumte: Wegen der mitunter chaotischen Entwicklungen im französischen Präsidentschaftswahlkampf habe man die Drehbücher umschreiben müssen, um nicht zu nah am realen Geschehen zu sein. Da aus demselben Grund manche der Pariser Originalmotive der ersten Staffel nicht mehr zur Verfügung stehen, weicht das Team nach Bordeaux aus und baut dort den Elysee-Palast nach. Höhere Kosten, höhere Schauspielergagen und kein Förderbonus für erste Staffeln neuer Serien mehr – damit reiche das Geld trotz verdoppelter Minimungarantie vom Vertrieb Studiocanal hinten und vorne nicht, so Bourguignon. Man hoffe noch auf EU-Förderung in letzter Minute.
Auf hochwertigen Seriennachschub in den nächsten Jahren lassen die beim „Co-Production Forum“ der Séries Mania gepitchten Entwicklungsprojekte hoffen. 312 Einreichungen hatte das Team des Pariser Forum des Images in diesem Jahr erhalten, 16 davon durften sich vor der Fachöffentlichkeit präsentieren. Aus deutscher Sicht fiel dabei auf, dass es ausländische Produktionen zunehmend nach Deutschland, insbesondere nach Berlin, zu ziehen scheint. Sowohl die niederländische Comedy-Serie „David“ über einen liebenswert-chaotischen Tagträumer und dessen Scheitern an der Realität als auch der britische Psychothriller „Girl on a Wire“ sollen überwiegend in Berlin spielen. Letzterer erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die bei einem Tech-Startup mit Sexismus und Mobbing der extremen Art konfrontiert wird. „Girl on a Wire“ ist eines der ersten Fiction-Projekte der All3Media-Tochter Studio Lambert, die bisher Reality-Formate wie „Undercover Boss“ hervorgebracht hat.
Ebenfalls starken Deutschland-Bezug soll das auf wahren Ereignissen basierende niederländische Krimi-Familiendrama „The Faction“ haben, in dem der junge Informatiker Remy plötzlich von der Vergangenheit seiner Eltern als RAF-Terroristen erfährt und in einen von ihnen begangenen Banküberfall hineingezogen wird. „Mad Men“ meets „House of Cards“, lautete der Pitch des dänischen Drehbuchautors, Journalisten und UN-Experten Michael Soussan. In seiner historischen Politserie „M.A.D.“ – kurz für „Mutually Assured Destruction“ – möchte er von Krisen und Konflikten hinter den Kulissen der noch jungen UN im New York der 1950er Jahre erzählen. Um die komplexe Materie griffig und emotional aufzubereiten, plant Soussan mit dem Mord an einem Whistleblower sowie der unmöglichen Liebesgeschichte zwischen Natasha und Jason, zwei jungen UN-Diplomaten, die sich im Auftrag ihrer Heimatländer UdSSR und USA gegenseitig bespitzeln sollen.
„Spartacus“ meets „Truman Show“, hieß es beim Pitch von Endemol Shine Italy zur geplanten SciFi-Dramedy „Romans in L.A.“: Eine Gruppe eingefrorener antiker Römer wird in der Jetztzeit wiederbelebt und als nichts ahnende Reality-Protagonisten in einer Art „Big Brother“-Set ausgesetzt. Spannend könnte auch die als „Six Feet Under“ meets „Real Humans“ angepriesene französisch-israelische Koproduktion „The Steins“ werden: In dieser „Frankenstein“-Variante gerät das Forscher-Ehepaar Marie und Victor Stein in handfeste Gefahr und ein moralisches Dilemma, als es Tote wiederbelebt, um den eigenen todkranken Sohn zu retten. Aus Deutschland und Österreich nahm die bereits bei den Drama Series Days der Berlinale gepitchte Koproduktion „Freud“ von Bavaria Fernsehproduktion und Satel Film teil (DWDL.de berichtete).
Zum ersten Mal wurde das beste Entwicklungsprojekt des „Co-Production Forums“ mit 50.000 Euro belohnt. Die zuständige Fachjury, der u.a. HBO-Serienchefin Francesca Orsi, DR-Fictionchefin Piv Bernth und Red-Arrow-International-Geschäftsführer Henrik Pabst angehörten, entschied sich für „Fertile Crescent“, eine weitere israelisch-französische Koproduktion. Der Mix aus Kriegs- und Familiendrama soll in acht Folgen die Geschichte von Antoine erzählen, der seine tot geglaubte Schwester Nathalie in einem TV-Bericht über kurdische Peschmerga-Kämpferinnen zu erkennen glaubt und sich im Kriegschaos des Nahen Ostens auf die Suche nach ihr begibt. „Zeitgemäße politische Auseinandersetzung und emotional mutige, einzigartige Erzählung machen 'Fertile Crescent' dieses Jahr zu einem spannenden Gewinner“, so Jurychefin Orsi. „Ich spreche für die gesamte Jury, wenn ich sage, dass wir uns sehr darauf freuen, dass diese global bedeutsame Serie entstehen wird.“