Das Dunkel der Nacht bringt allerlei lichtscheue Gestalten hervor. Schlafwandler, Mondsüchtige, Grabtänzer, Vampire, nicht selten in Personalunion. Auch am Bildschirm ist die Finsternis voller Schattengewächse auf der Flucht vorm Tag oder der Suche danach. Pierre M. Krause gehört dabei zur Spezies derer, die zugleich fliehen und suchen. Kein Wunder – sein Biotop ist die Fernsehnische, der Tümpel die Late-Night-Show, das Futter die Zuneigung des Spartenpublikums von Spartenformaten im Spartenprogramm. Und es füttert den spindeldürren Moderator so sparsam mit Interesse, dass er selbst im Maststall des Mainstreams kein Gramm zunähme. So ist es, das Medienleben am Rande der Aufmerksamkeitsindustrie.
Denn wie sie auch alle heißen, die großen kleinen Vorgänger des hageren Pierre Marcel Krause aus Karlsruhe – ob Böhmermann oder Benjamin von Stuckrad-Barre, ob Niels Ruf oder Kurt Krömer: Seit Thomas Koschwitz abgetreten ist, ist das Zwiegespräch mit Live-Band in kosmopolitischer Studioatmosphäre ein Metier dünner Heringe mit großer Klappe, die sich in ihrer Nische zumeist sehr, sehr wohl fühlen.
So ging, so geht es auch Pierre M. Krause, der seit 2005 allwöchentlich im SWR plappert, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, und ringsumher allenfalls ausnahmsweise mal den Schutzraum abseitiger Kultur- und Regionalsender verlässt. Bis jetzt. Denn am Freitag folgt ein längerfristiger Schritt ins Rampenlicht: Nach 14 gemütlichen Jahren im Dritten Programm wandert der kurzweilige Ratespaß „Sag die Wahrheit“ ins Erste und mit ihm das Stammmitglied Krause, der fast von Anfang an mitmischt in dieser deutschen Neuauflage einer amerikanischen Sendung der späten Fünfzigerjahre.
Moderiert vom rheinischen Sportreporter Michael Antwerpes, muss der badische Entertainer im Team mit der Berliner Schlagerfee Kim Fisher, der Züricher Schauspielerin Ursula Cantieni und dem Stuttgarter Rap-Star Smudo zunächst 14 Ausgaben lang erraten, welcher von jeweils drei Kandidaten den angegebenen Beruf wirklich innehat. Zum Auftakt unter anderem: Flirt-Coach. Das ist eine Art „Was bin ich?“ für Best-Ager der Gegenwart – ein bisschen bunter als damals, ein bisschen biederer als heute gebräuchlich. Argloser kann Fernsehunterhaltung heutzutage kaum sein. Und doch geht Pierre M. Krause mit seinem Ausflug in die Welt der messbaren Quote ein Risiko ein.
Am finanziell wie atmosphärisch wichtigen ARD-Vorabend gibt es nämlich nicht nur viel Geld zu verdienen, sondern noch mehr Renommee zu verlieren. Das werberelevante Umfeld ist ein Massengrab televisionären Anspruchsdenkens, also auch für Krauses Ruf im Feuilleton durchaus heikel. Das aber ist dem gelernten Bankkaufmann mit Kurzfilmemachererfahrung herzlich egal. „Ich mache im weitesten Sinne Unterhaltung zwischen anspruchsvoll und volkstümelnd“, sagt er auch beim Interview im Schnellfeuerduktus seiner Mikrofon-Stimme und lacht dabei ständig das Lachen desjenigen, der sich seiner Sache überaus sicher ist.
Es ist die Sache der geborenen Rampensau, die seit 40 Jahren auf Erden optische Makel einfach wegentertaint. Postertaugliche Nischenkollegen von Manuel Möglich über Sarah Kuttner bis Micky Beisenherz haben immer noch ihr Äußeres als Backup verpatzter Pointen. Pierre M. Krause hat hinter der etwas zu hohen Stirn mit den etwas zu engen Augen über den etwas zu dicken Tränensäcken ein Selbstbewusstsein, das seiner Exaltiertheit rotzfrech den Weg ins Publikum ebnet. Man kann das gut im Internet bestaunen: Wie er bei „Inas Nacht“ noch lauter brüllt als die hinreißend vulgäre Gastgeberin oder beim Telefonstreich mit Karolin Kebekus noch gröber als die schmerzbefreite Komikerin – da wird deutlich: Pierre M. Krause gibt immer alles und er gibt es an jeder Firewall des Selbstschutzes vorbei.
Mit diesem löchrigen Panzer vorm engsitzenden Anzug, den das SWR-Gewächs schon trug, als all den Vollbart-Hipstern in Berlin-Mitte noch nicht mal zart der Flaum wuchs, kann er selbst leichte Kost à la „Sag die Wahrheit“ verabreichen. Das sei „eine Mischform aus Empathie und Investigation“, sagt er fröhlich, „am Ende aber ein Unterhaltungsformat“. Und als solches irgendwie nicht wert, am großen Maßstab der Hochkulturkritik gemessen zu werden. Außerdem entsteht es in Baden-Baden, also nahe der eigenen Haustür seiner Heimatstadt, die er zwischendurch zwar ab und an verlassen, aber längst wieder bezogen hat. „Ich würde eine gewisse Verbundenheit zu meinem Wohnort nicht bestreiten“, so sanft kann selbst der Schreihals Krause sein Gefühl von Bodenständigkeit beschreiben.
Zu dem zählt übrigens auch ein „angenehmes Gefühl von Nostalgie“, wie er die warme Erinnerung an Abende „im Frotteeschlafanzug mit der ganzen Familie vorm Röhrenfernseher“ nennt. Als Frank Elstner mit Baggerfahrern gewettet hat und Robert Lembke Schweinderl gefüllt. Damals, als der kleine Pierre M. noch zu Bett ging, wenn der große M. Krause nun die Late Night einläutet. Mal sehen, ob er es weiterhin im SWR tut. Das Potenzial für mehr hat er allemal.
Das Erste zeigt "Sag die Wahrheit" immer freitags um 18:50 Uhr