Er ist 80 Jahre alt und schlurft mit gelber Regenjacke und Schiebermütze durch den Matsch. Norbert Blüm, langjähriger Arbeitsminister unter Altkanzler Kohl, hat sich für "Stern TV" auf den Weg nach Idomeni gemacht - jenen Ort, der in den vergangenen Tagen für so viele traurige Schlagzeilen sorgte. Tausende Menschen sitzen dort im Flüchtlingslager fest und hoffen in nassen Zelten darauf, dass es irgendwie weitergehen wird. "In Syrien sterben wir schnell, jetzt sterben wir langsam", sagt eine verzweifelte Mutter von fünf Kindern über die Situation, für die Norbert Blüm kein Verständnis aufbringt. Nun kann man die berechtigte Frage stellen, ob den Menschen in ihrer Not ausgerechnet einer wie Blüm gefehlt hat, doch mit seiner Reise nach Griechenland hat ihnen der einst so gerne belächelte Politiker ihnen einen großen Gefallen getan.

Mit seinem Bericht gelingt es Blüm nämlich wohl so gut wie noch keinem Journalisten zuvor, das Elend der Flüchtlinge darzustellen - auch dank der klaren und verständlichen Worte, die ein Politiker heutzutage tragischerweise wohl nur dann noch finden kann, wenn er nicht in unmittelbarer Verantwortung steht. "Europa, schäm dich", schimpft er, als er vor einem hohen Draht aus Stacheldraht steht. "Grenzen sollten in Europa fallen, das war das große Programm. Schlagbäume wegräumen. Grenzen, an denen die Völker sich die Köpfe blutig geschlagen haben - weg damit. Und jetzt geht alles wieder rückwärts. Wir haben aus den Fehlern der Vergangenheit nicht gelernt."

Norbert Blüm klingt traurig und wütend, als er diese Sätze im Angesicht des Leids der Menschen spricht. "Stacheldraht gegen Kinder, nicht gegen Armeen. Hier sollen Kinder hängen bleiben und nicht durchkommen. Das ist keine Panzersperre, das ist eine Menschensperre. Gegenüber hilflosen Kindern." Es ist die Enttäuschung eines Mannes, der seit jeher überzeugter Europäer ist und nun sieht, wie diese wunderbare Idee der Gemeinsamkeit in sich zusammenbricht. "Mit den Orbans ist keine Europa zu machen. Mit der österreichischen Regierung auch nicht, mit der polnischen auch nicht, mit der tschechoslowakischen auch nicht", sagt er ein Stück weit resigniert. "Mit denen kannst du kein Europa machen, höchstens ein Europa der Abholer, wenn’s Geld gibt. Das sind die Europäer."

Diese schonungslose Klarheit, mit der Blüm die heutigen Probleme benennt, zeichnet den Bericht aus, der am Mittwochabend bei RTL zu sehen war und in Teilen zuvor schon in den sozialen Netzwerken die Runde machte. Aber auch seine Empathie für die Menschen, die er in Idomeni trifft, ist Blüms großes Pfund. Eine Nacht verbringt er selbst im Zelt, obwohl er nach vielen schlaflosen Stunden zunächst kaum noch auf die Beine kommt. "Ich möchte nicht einfach nur so durch das Lager gehen wie ein Tourist. Nicht so zur Besichtigung. Sondern ein Stück des Daseins teilen. Elend teilen - wenn auch nur für kurze Zeit", erklärt Blüm. "Aber nicht nur so wie man durch den zoologischen Garten geht, die Menschen besichtigen, dann wieder wegfahren. Sondern ein Stück mich auf die gleiche Ebene mit denen Stellen, die hier Not leiden."

Norbert Blüm im Flüchtlingscamp© Screenshot RTL

Komisch käme er sich vor, wenn er durch die Elendsquartiere gehe und nach zwei Stunden zurückkehre. Für die perfide Aussage des AfD-Politikers Alexander Gauland, man dürfe sich nicht von Kinderaugen erpressen lassen, hat Norbert Blüm ebenso wenig übrig wie für einen Artikel von "Spiegel Online", in dem Helfer ihn mit den Worten zitiere, dass jeder in Deutschland bleiben dürfe, der es dorthin schaffe. "Das sind Schwätzer", poltert Blüm später im Studio, als ihn Moderator Steffen Hallaschka darauf anspricht. "Haben die nichts anderes zu tun als schlechte Stimmung zu verbreiten und Lügen unter die leute zu bringen? Es gibt wichtigere Sachen als sich mit dem Blüm zu beschäftigen. Die sollen sich mit den Leuten beschäftigen, ich komme mit mir schon zurecht."

Tatsächlich nimmt man ihm ab, dass es ihm um die Sache geht und nicht so sehr um ihn selbst. "So heroisch ist das von mir nicht", wiegelt er mit Blick auf seine Nacht im Zelt ab. Viel lieber will er aufrütteln. Regelrecht laut wird Blüm, als er von Zügen spricht, die die Grenze in unmittelbarer Nähe zum Camp passieren dürfen. "Geschäfte grenzenlos, Güter und Waren grenzenlos und Menschen eingesperrt. Das halte ich für eine perverse, verrückte Welt, dass die toten Sachen Vorfahrt haben vor den Menschen." Angesichts von 500 Millionen Europäern müsse niemand besondere Leistungen erbringen, damit es jenen, die vor Krieg und Terror flüchten, besser geht. Blüms Worte sind ein Appell an die Menschlichkeit, die in diesen Tagen bei all der Kleinstaaterei verlorenzugehen droht - oder gar schon in Teilen verlorengegangen ist.

"Er bringt die Menschen dazu, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen."
i&u-Geschäftsführer Andreas Zaik über Norbert Blüm

"Norbert Blüm ist stets nah bei den Menschen, direkt und freimütig. Seine unermüdlicher Einsatz, sein Einmischen in aktuelle Debatten wird von vielen geschätzt", sagt Andreas Zaik, Geschäftsführer der "Stern TV"-Produktionsfirma i&u, gegenüber dem Medienmagazin DWDL.de, betont aber zugleich, dass Blüm durchaus polarisiert. "Das zeigen Tausende Posts und Nachrichten, die uns erreicht haben, als wir die ersten Ausschnitte seines Besuchs in Idomeni in den sozialen Netzwerken veröffentlicht haben. Aber: Er bringt die Menschen dazu, sich mit den Themen auseinanderzusetzen." Genau das ist es, was Blüms Filme so besonders wertvoll machen. Der Erfolg lässt sich dabei auch an Zahlen ablesen: Mehr als zwei Millionen Menschen haben sich bereits die Videos zu seinem Aufenthalt in Idomeni angesehen.

Für Norbert Blüm war es allerdings keineswegs der erste Einsatz für "Stern TV": Schon seine Reisen in das Bürgerkriegsgebiet des Sudans und die Besichtigung der WM-Stätten in Katar sorgten in der Vergangenheit für große Aufmerksamkeit. "Dass jemand im Alter von 80 Jahren nicht müde wird, sich zu engagieren und bereit ist, eine Nacht in einem kleinen Zelt zwischen den Flüchtlingen zu verbringen, nötigt vielen Menschen Respekt ab – auch uns", betont Andreas Zaik, der sich schon auf weitere gemeinsame Projekte mit Norbert Blüm freut. Gut möglich also, dass der 80-Jährige schon bald wieder die gelbe Regenjacke und seine Schiebermütze aus dem Schrank holen wird.

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