Wer die Bilder vom weltweiten Käufer-Ansturm auf die neue Xbox One und die neue Playstation 4 gesehen hat, mag kaum glauben, dass den Konsolen harte Zeiten bevorstehen. Sowohl Microsoft als auch Sony haben gleich am ersten Tag je eine Million Geräte verkauft. Analysten gehen davon aus, dass es in den ersten vier Monaten insgesamt zehn Millionen sein werden - im Wert von 4,5 Milliarden Dollar. Und doch hat die Branche zunehmend mit kostenlosen Online-Games zu kämpfen, die auch auf Tablets und Smartphones prima funktionieren.

Da ist es für die Hersteller mehr als ein Akt der Kundenfreundlichkeit, wenn ihre Konsolen inzwischen zu multimedialen Alleskönnern und zur sprichwörtlichen Kommandozentrale im Wohnzimmer herangereift sind. Angesichts der Zahlen, die etwa Microsoft veröffentlicht, muss die TV-Industrie aufhorchen: Seit 2012 wird auf der Xbox mehr Nutzungszeit mit Film-, TV- und Musikinhalten verbracht als mit Gaming. Im Detail: Von rund 80 Millionen Xbox-Besitzern weltweit sind etwa 48 Millionen online beim Xbox-Live-Netzwerk registriert. Deren kumulierte Nutzungszeit betrug im vorigen Jahr 20 Milliarden Stunden, von denen erstmals etwas mehr als die Hälfte auf Entertainment-Apps entfiel - und entsprechend etwas weniger als die Hälfte auf Spiele.



Microsoft selbst hat daraus zwei Konsequenzen gezogen. Die erste: Man versteht sich zunehmend als Alternative zu klassischen TV-Sendern. Die zweite: Nun will man auch noch zum Produzenten werden, und zwar im großen Maßstab, als eine Art neues Hollywood-Studio. Als TV-Ökosystem ist die Xbox One schon heute kaum zu überschätzen. Vom Start weg sind im US-Markt eigene Apps von Netflix, Hulu, ESPN, Fox Now oder Sonys Abrufdienst Crackle verfügbar, in Kürze folgen Amazon Instant Video und HBO Go. In Deutschland haben bereits Lovefilm, Watchever, Zattoo oder Eurosport eigene Apps für die Xbox One. Sky Go, Arte oder die ZDF-Mediathek sind auf der Xbox 360 vertreten und werden wohl bald nachziehen.

Großer Vorteil für die Konsole: Etliche dieser Apps sind in puncto Usability den jeweiligen Versionen für Smart-TV-Systeme weit überlegen. Allerdings beschränkt Microsoft sich nicht darauf, anderen Video-on-Demand-Portalen eine Plattform zu bieten. Mit dem hauseigenen Xbox Video Store macht der Konzern ihnen zugleich Konkurrenz - und das nicht nur auf der Konsole selbst, sondern seit voriger Woche auch via Webbrowser auf PCs und Tablets. Rund 300.000 Filme und Serienfolgen sind dort abrufbar, beispielsweise die laufende dritte "Homeland"-Staffel oder andere aktuelle US-Serien - unmittelbar nach der Erstausstrahlung und mit deutschen Untertiteln. Einzelne Folgen kosten 2,49 Euro in SD bzw. 2,99 Euro in HD und damit genauso viel wie bei iTunes oder Maxdome.

Auch die nächste Stufe hat der einstmals reine Software-Konzern längst gezündet - und die zielt darauf ab, die Xbox mit eigenproduzierten TV-Inhalten zu bespielen. Seit gut einem Jahr baut Nancy Tellem als Entertainment & Digital Media President die Xbox Entertainment Studios in Santa Monica auf. In der TV-Branche ist die 60-jährige Kalifornierin nicht irgendwer: Als langjährige Chefin der CBS Network Television Entertainment Group war sie maßgeblich für globale Hits wie die "CSI"-Serien oder "Navy CIS" verantwortlich. Mit rund 200 Mitarbeitern und weiteren Studios in London, Seattle und Vancouver ist sie fleißig dabei, Drama- und Comedy-Serien, Dokus, Reality-Shows und Live-Events zu entwickeln.

"Wir wollen partnerschaftlich mit der TV-Industrie zusammenarbeiten, um Entertainment in eine neue Ära zu bringen", lautet Tellems Credo, "eine Ära, in der interaktives Entertainment die beste Form von Entertainment wird." Der Schwerpunkt soll auf jüngeren Zielgruppen liegen, die TV-Inhalte verstärkt jenseits des linearen Konsums suchen und denen der Sinn nach sozialer Interaktion steht. Erste Fingerübungen waren im Frühjahr interaktive Live-Streams vom Roten Teppich der Grammys und der Oscars sowie von der Wahl der "Miss Teen USA". Xbox-Live-Nutzer konnten während der Übertragungen an Abstimmungen teilnehmen und Fragen beantworten.

Doch mittlerweile ist man ein paar Schritte weiter. In Vorbereitung ist etwa "Halo: The Television Series", eine Science-Fiction-Serie, die auf dem gleichnamigen Xbox-Ego-Shooter basiert. Sie entsteht in Zusammenarbeit mit dem Spieleentwickler 343 Industries und mit Steven Spielberg als Executive Producer. Außerdem ist ein Remake der BBC-Science-Fiction-Serie "Blake's 7" aus den 70er Jahren geplant.

"... die Storytelling-Magie des Fernsehens mit der interaktiven Stärke der Xbox One verschmelzen"

Nancy Tellem, Xbox Entertainment Studios


In der Nonfiction zählt "Every Street United" zu den ersten Projekten. Die neunteilige Reality-Reihe von US-Regisseur Jonathan Hock stellt junge Straßenfußballer aus verschiedenen Ländern vor und soll offenbar mit einem Finale der besten Acht während der Fußball-WM in Brasilien enden. Das Thema passt gut zum verstärkten Sport-Engagement der Xbox Entertainment Studios, die in Kooperation mit ESPN oder der NFL verschiedenste Live-Übertragungen mit interaktiven Elementen wie personalisierten Statistiken anreichern.

"TV auf der Xbox One wird dich eintauchen lassen und dir erlauben, quasi in die Handlung hineinzuspringen", so Studiochefin Nancy Tellem. "Es ist wirklich personalisiert und wirklich sozial. Es wird Empfehlungen mit erstaunlicher Präzision liefern und die Storytelling-Magie des Fernsehens mit der interaktiven Stärke der Xbox One verschmelzen."

Auch wenn man ein ganzes Stück der werblichen Euphorie abzieht, bleibt die Entwicklungsarbeit im Xbox-Umfeld für TV-Macher spannend: Tellems Team kann neue Inhalte von vornherein so konzipieren, dass die Steuerung beim Zuschauer über Sprachbefehle oder Gesten per Kinect bzw. "Smart Glass"-Apps auf Tablets und Smartphones funktioniert. Das ermöglicht ein viel intuitiveres Erlebnis als etwa beim "Red Button" auf der TV-Fernbedienung. Natürlich setzt Microsoft als Hardware-Hersteller darauf, in möglichst vielen Wohnzimmern das Kommando zu übernehmen - und liefert künftig die entsprechende Software, in diesem Fall Shows und Serien, gleich mit. Ums Spielen geht es dabei nur noch in zweiter Linie.

Themenwoche Neues Fernsehen