Im Oktober 2009 wechselte der ehemalige Comedy-Chef von RTL als Programmdirektor zu RTL II - und fand sich plötzlich in einem völlig anderen Umfeld wieder. Statt bei einem Sender mit viel Geld, aber so hohem Erfolgsdruck, dass Experimente kaum möglich scheinen, musste Holger Andersen plötzlich mit geringen Budgets auskommen - doch angesichts der aufziehenden Quotenkrise um so mehr experimentieren. Und das tat Andersen dann auch: Insbesondere in der Saison 2010/11 testete Andersen in geradezu atemberaubender Taktzahl ein Format nach dem anderen. Das ging so schnell, dass kaum ein Zuschauer mit kam, die Folge waren meist ernüchternde Quoten. Der Marktanteil sackte dadurch zwischenzeitlich auf 5,4 Prozent in der Zielgruppe ab, der Rückstand auf kabel eins wuchs auf einen ganzen Prozentpunkt an, Vox war noch viel weiter enteilt.
Natürlich haben viele Formate von damals nicht überlebt. Doch einige Erfolge hat man aufgetan. Und so zahlt sich diese wilde Experimentierphase - DWDL.de betitelte die Saison-Bilanz vor einem Jahr "RTL II außer Rand und Band" - nun Stück für Stück aus. Gestartet ist RTL II in die zurückliegende TV-Saison im September vergangenen Jahres mit einem Monatsmarktanteil von 5,4 Prozent in der Zielgruppe. Dann ging es Schritt für Schritt nach oben, im Februar wurde erstmals wieder die 6-Prozent-Marke durchbrochen, im Mai reichte es mit 6,4 Prozent für den besten Monatswert seit über zwei Jahren.
Zu verdanken ist dieser doch enorme Aufschwung allem voran dem Vorabend. "Berlin - Tag & Nacht" brachte RTL II anfangs viel Häme ein - billiger Trash, der dem Publikum auch noch Realität vorspiegelt, obwohl doch in Wahrheit alles gescriptet ist. Doch nach anfangs miserablen Quoten von knapp über 4 Prozent entwickelte sich das Format nach oben auf zuletzt über 15 Prozent Marktanteil in der Zielgruppe. Das ist der größte Erfolg für RTL II seit vielen Jahren und zwar im Genre der täglichen Serie - wenn auch mit billigeren als den klassischen Mitteln -, an dem sich so viele Sender wie Sat.1, das ZDF und selbst RTL mit Neustarts in den letzten Jahren die Zähne ausgebissen haben. Stand früher bei RTL II stets die bange Frage im Raum, was man eigentlich nach dem Staffel-Ende von "Big Brother" zeigen soll, so fragt man sich jetzt höchstens, was man eigentlich noch mit "Big Brother" anfangen soll. Ein derartiges Quoten-Niveau erreichte das Format schon jahrelang nicht mehr und band doch gleichzeitig immer noch große Teile des RTL II-Budgets.
Das kann RTL II nun anderweitig verwenden - etwa für die Ausweitung der Eigenproduktionen. Denn auch wenn man sich über manches Format inhaltlich streiten kann: RTL II zeigt inzwischen so viel Eigenproduziertes wie selten zuvor. Am Vorabend haben sich mit "X-Diaries" und "Privatdetektive im Einsatz" zwei weitere gescriptete Formate zu echten Hits entwickelt, der "Trödeltrupp" kam am Nachmittag ebenfalls schon auf zeitweise über 10 Prozent. RTL II ist schon so weit, dass die zuletzt nur noch schwach bis mäßig laufenden Sitcoms komplett aus dem Tagesprogramm entfernt werden konnten. Die Zeiten, in denen "King of Queens" in Heavy Rotation den halben Tag im Alleingang überbrücken musste, sind erst einmal Geschichte.
Mit seiner Vielzahl an Eigenproduktionen hat RTL II es zudem geschafft, Kult-Marken zu schaffen. "Berlin - Tag & Nacht" hat längst die mit riesigem Vorsprung größte aktive Fan-Gemeinde aller deutschen TV-Formate auf Facebook - und die diskutiert fleißig jeden noch so belanglos erscheinenden Eintrag. In der Primetime stiegen "Die Geissens" zu echten Kult-Stars auf. Nicht nur die eigene Dokusoap knackt die 10-Prozent-Marke, Robert und Carmen Geiss sind auch aus kaum einem Boulevard-Magazin noch wegzudenken. Und mit den Wollnys hat RTL II noch ein ähnlich starkes, wenn auch medial etwas weniger beachtetes Format am Start.
Gerade im Show-Bereich sind viele der Experimente natürlich wieder verschwunden. Aber die "Test"-Shows konnten sich etablieren, mit "My Name is" gelang es RTL II, sogar im übersättigten Casting-Markt Fuß zu fassen. Mit "RTL II Spezial. Das Magazin" wagte man sich an ein eigenes Primetime-Magazin, auch um Promo-Flächen fürs eigene Programm zu schaffen. Unter dem Titel "Investigativ" hat man eine Reportage-Reihe geschaffen, die sich tatsächlich ernsten Themen widmet. Auch wenn es teils an der Machart Kritik gab: Das muss man sich erstmal leisten wollen.
RTL II also - wie es in der öffentlichen Wahrnehmung häufig geschieht - rein auf Trash zu reduzieren, würde dem Sender nicht gerecht. Zumal RTL II auch ein Sender für hochwertige Serien-Ware ist. Die gab es da schon immer - doch sie ging wie "Californication" oder "Dexter" allzu häufig unter. Nun RTL II hat allerdings offenbar ein Mittel dagegen gefunden: Marathon-Programmierungen. Von "The Walking Dead" und "Game of Thrones" lief jeweils eine komplette Staffel an nur einem Wochenende. Auch das führte nicht selten zu Kritik, wieso man so mit seinen Serien umgeht - doch Marktanteile von teils über 10 Prozent geben RTL II recht.
Ende des Jahres wird Holger Andersen RTL II wieder verlassen. Und natürlich hat der Sender immer noch seine Flops und Baustellen. Doch er drückte dem Sender fraglos in vergleichsweise kurzer Zeit seinen Stempel auf - mit der Entscheidung, auch Shows zu zeigen, mit der Beendigung der Abhängigkeit von "Big Brother", mit der Ausweitung der Eigenproduktionen. Trotzdem gibt es für Andersens Nachfolger natürlich noch genug zu tun. Nicht zuletzt auch am Samstagabend, wo man versucht, einen Serien-Abend aufzubauen, ohne neue Serien im Angebot zu haben. Entsprechend schlecht sieht das aus. Doch mit dem starken Vorabend im Rücken, kann man die verbliebenen Baustellen zumindest gelassener angehen.
Mehr zum Thema