Egal ob die kommerziellen Fernsehsender ihren Werbekunden beim Screenforce Festival letzten Sommer ihre Programmhighlights präsentieren wollen oder bei den internationalen Fernsehmessen dieser Welt neue Formattrends gesucht werden: Reality TV ist allgegenwärtig und das in großer Vielfalt, wenn gleich man das vor lauter nackter Haut schon einmal übersehen kann. Dabei ist Reality TV nicht gleich Reality TV und Genre-Grenzen ohnehin immer schwerer zu definieren.

Waren die „Die Fussbroichs“ nicht schon Ende der 80er Jahre die erste Reality-Doku? Oder ist „Big Brother“ die Mutter aller Reality-Formate? Manche Castingshow ist längst pures Reality TV, weil der Weg zum Ziel erklärt wurde und der Sieg nicht einmal mehr viel verspricht. Und das Dschungelcamp? Erst verpönt, später Musterschüler des Genres, weil auch Kulturpessimisten der fein-herben Kommentierung und Moderationen eine Meta-Ebene nicht absprechen konnten. 

Der „Bachelor“ und die „Bachelorette“ waren etabliert, das „Herzblatt“ im Ersten fast schon vergessen, da begann der Siegeszug des Dating im Reality-Genre erst so richtig: Hand in Hand mit Social Media explodierte die Anzahl von Kuppelshows mit mal mehr und mal weniger ernsthaftem Ansatz. Das zeigefreudige Klientel, bemüht um maximale Sendezeit, Fame und den nächsten Follower-Push, scheint unbegrenzt. Doch auch hier gibt es Unterschiede.

Den Nackedeis mancher Streaming-Formate stehen durchaus ambitionierte Experimente im Dating-Bereich gegenüber, wobei „die Wissenschaft“ und manche Versuchsanordnung gelegentlich schon ganz schön strapaziert wurden. Und im Zweifel hilft doch immer wieder nackte Haut. Kein Wunder, dass in diesem Überangebot von Textilknappheit manch ein eher ambitionierter Versuch nicht zünden wollte. 

Nach Jahren des drollig-drallen Datings war das deutsche TV-Publikum bei Versuchen wie „The Mole“ oder „Survivor“ doch nachhaltig verstört, wenn nach fünf Minuten trotz traumhafter Insel niemand halb nackt durchs Bild lief. Und so  taten sich selbst die größten Reality-Formate im Adventure-Bereich im deutschen Fernsehen über Jahre schwer oder schafften es wie im Falle von „The Amazing Race“ gar nicht ins hiesige TV. So blieb das Feld weitgehend dem Dating sowie einzelnen Leuchttürmen in „Big Brother“- und „IBES“-Manier überlassen. 

Und dann kam „The Traitors“. Der internationale Verkaufserfolg lockte RTL und 2023 lief die erste Staffel mit durchschnittlichem Erfolg aber extrem positiven Kritiken im Programm der Kölner, die den Mut bewiesen, gleich zwei weitere Staffeln zu bestellen. Eine davon lief weitgehend im Streaming bei RTL+, wenn gleich die Auftaktfolge mehr Zuschauerinnen und Zuschauer lockte als die Premiere der ersten Staffel. Kommende Woche startet nun Staffel 3 im Linearen.

Auf den Messen und Kongressen der Branche wurde das Original aus den Niederlanden und seine internationalen Verkäufe zu einem der zuletzt selten gewordenen Hit-Formate deklariert. Die neue Maxime im Reality-Genre: Strategie statt Sex. Und es mangelt nicht an Formaten, die sich mal subtil, meist aber sehr deutlich inspirieren ließen von „The Traitors“. Auch aus der All3Media-Gruppe stammt „Race across the world“, eine Abenteuerreise mit der die BBC schon über mehrere Staffeln Erfolge feierte.

Während die BBC globale Entertainment-Formate selbst geprägt („Strictly Come Dancing“) oder aber eingekauft hat („The Voice“), sperrten sich die Öffentlich-Rechtlichen in Deutschland lange beim Einkauf von Lizenzformaten. Ausnahmen bestätigen die Regel. Umso hellhöriger durfte man werden als „Race across the world“ vom ZDF beauftragt wurde - und nun unter der „Terra X“-Dachmarke als „Wettlauf um die Welt“ in die Primetime kommt.

Und dann beauftragt die ARD die deutsche Adaption von „Werewolves“, einer französischen TV-Idee die sich der Lizenz von „Werwölfe von Düsterwald“ bedient - jener Brettspielvorlage, die zweifelsohne Inspiration für „The Traitors“ war. Reality TV wird öffentlich-rechtlich, wobei sich manche/r noch erinnern wird: Mit „Schwarzwaldhaus 1902“ hatte die ARD 2002 im Grunde erfunden, was ProSieben später als „Die Alm“ eskalieren ließ. Gänzlich neu, auch mit Blick auf „Die Fußbroichs“, ist es also nicht.

Und doch erleben wir 2025 die Öffnung eines lange im Dating verharrten Genre nicht nur hin zu mehr Strategie sondern auch zu den älteren Zielgruppen der Öffentlich-Rechtlichen. RTL hatte es ja auch probiert mit dem „Golden Bachelor“. Leider werden wir nie erfahren, ob es - wie geplant - zur Primetime bei Vox vielleicht besser gelaufen wäre als am Sonntagvorabend bei RTL, wo man zuvor über Monate hinweg mit der NFL die jungen Männer adressierte - um dann plötzlich ältere Frauen erreichen zu wollen.

Reality TV in seinen verschiedenen Facetten ist in der textillastigeren Fassung damit das jüngste Genre, das die alten Grabenkämpfe und Glaubenskriege zwischen öffentlich-rechtlicher und privater Fernsehunterhaltung überbrückt. Gut so, weil die neuen Formate beweisen: Reality kann auch für Wissen und Strategie ein guter Träger sein. Und in Zeiten angespannter Budgets lassen sich günstiger und schneller Spannung und Drama erzielen als mit den meisten fiktionalen Produktionen. Eine unbequeme Wahrheit.

Der Start von „Terra X: Wettlauf um die Welt“ diesen Mittwoch im ZDF, die dritte Staffel „Die Verräter“ ab kommenden Dienstag bei RTL und mutmaßlich im Herbst dann „Werwölfe von Düsterwald“ in der ARD Mediathek werden in diesem Jahr zum Prüftsein dafür, ob wir 2025 auch in Deutschland - wenn auch viel später als viele andere TV-Märkte - eine größere Reality-Vielfalt hinbekommen, die noch dazu kein Tabu mehr sein muss für ARD und ZDF. Es könnte gerade für die non-fiktionale Produktionslandschaft einer der wenigen Lichtblicke sein.