Mehr als dreitausend Köpfe aus der TV-Branche waren vergangene Woche in London, mehrheitlich für die länger etablierten Screenings. Einige aber auch erstmalig für die Premiere der neuen MIP London. Eine interessante Konstellation zweier konkurrierender Veranstaltungen, zu der wir uns ebenfalls umgehört haben. Doch die erste Frage, die wir nach der Heimreise an mehr als ein dutzend deutsche Gäste der London Screenings gestellt haben, galt den wichtigsten Trends und interessantesten Beobachtungen dieser Tage an der Themse. Die Antworten darauf hat DWDL gesammelt, dabei die wesentlichen Punkte identifiziert, Eigeninteresseren herausgefiltert und aufbereitet. Nicht namentlich, weil die Antworten so unmittelbarer, ehrlicher und weniger diplomatisch formuliert werden konnten.
Es ergaben sich am Ende sieben Gebote der diesjährigen Screenings in London:
- „Reality bleibt das Maß der Dinge“ - aber in Variationen: Statt großer Innovation im Formatgeschäft stand - in risikoaversen Zeiten wenig verwunderlich - eher Evolution auf dem Programm der Screenings. Das Reality-Genre verspricht vielen Sendern und Plattformen weiterhin das Drama fiktionaler Produktionen mit günstigeren und schnelleren Produktionen. Der einstige Fokus auf Dating ist inzwischen ergänzt um Strategic Reality (etwa „Die Verräter“ und Nachahmer) und auch Adventure Reality („Race across the world“, ein All3Media-Format, demnächst unter dem Terra X-Label beim ZDF). Gedreht wird jedenfalls fast immer On Location, große neue Studio-Shows? Fehlanzeige.
- AI-Dubbing wird kommen: Weniger relevant im Formatgeschäft, doch beim internationalen Verkauf von ReadyMade-Programmen (also z.b. fertig vorliegenden Serien) sind kostspielige Synchronisationen ein enormer Kostenfaktor und mitunter Hindernis für den internationalen Vertrieb. Wenn auch nicht Teil der Präsentationen, wurde es in Gesprächen als Option angeboten - und stand bei der MIP London ebenso auf der Agenda. Mehrere Tech-Anbieter buhlten dort um Aufmerksamkeit und Gunst der Fachbesucher*innen. Distributoren warben für die Akzeptanz - um Margen zu retten. Was uns in Deutschland vor einigen Wochen durch eine Viaplay-Serie bei Magenta TV Schlagzeilen machte, wird uns in den kommenden Jahren immer häufiger beschäftigen.
- Sie erleben mal wieder eine Renaissance: Productions Hub: Ob nun Reality in der Dominikanischen Republik oder Südamerika oder manches Studio-Format in den Niederlanden, der Türkei oder Schweden: Diverse Produktionshäuser erhoffen sich einen neuen Frühling für das schon oft gepriesene Konzept von Production Hubs - also einem Set, das für diverse nationalen Adapationen genutzt wird. Wenn gleich es das schon in den 90ern im niederländischen Hilversum gab, wurde es in den Boom-Jahren der TV-Unterhaltung eher bei Formaten mit großen Außensets als effizient betrachtet. Inzwischen aber werben nicht nur Talpa und Warner Bros Discovery mit Sets, die für internationale Show- und Factual-Adaptionen genutzt werden könnten.
- Franchises: Zwischen Hoffnung, Fragen und Enttäuschungen: Einmal erfolgreiche Marken auszubauen, ist kein neuer Trend. Aber er verstetigt sich, über alle Genres hinweg. RTL in Deutschland probierte es gerade erst mit dem „Golden Bachelor“, aber auch fiktional versuchen es selbst Hollywood-Studios - mit nicht immer überzeugendem Ergebnis. Vom in London vorgestellten „Suits L.A.“ (NBCUniversal) oder „Spartacus: House of Ashur“ (Lionsgate) beispielsweise waren wenige deutsche Einkäufer*innen überzeugt. Und im Formatgeschäft fehlten den von uns befragten Besucher*innen oft Details, was gewisse Extensions bestehender Formatmarken denn konkret ausmachte und zum Erfolg führte. Ein Packshot des Formats allein gebe keine Antworten.
- Trend-Thema Social Factual: Hier mangelt es nicht an Ideen: Neben immer mehr Reality-Formaten, in welcher Wettbewerbsform auch immer, waren Social Factual das Genre der London Screenings. Mit gesellschaftlicher Relevanz und lokalen Versionen mit lokalem Cast versprechen sich insbesondere lineare Sender wichtige Aufmerksamkeit im Kampf gegen globale Streamingdienste. Es gibt zwei Methodiken, die aufgefallen sind in London: Entweder geht es um Sichtbarkeit oft unsichtbarer Bevölkerungsgruppen (z.B. Autisten bei „Atypical Critics“, Banijay) oder aber die Enttabuisierung von Themen. Da waren im Londoner Angebot zum Beispiel „Inside Therapy“ (Warner Bros ITVP) über die Normalisierung von Psychrotherapie. Oder einmal mehr das ambivalent gesehene Thema Tod bei „AI Love You“ (Banijay).
- „Wer kann es sich leisten, eine ganze Woche in London zu bleiben?“: Auch ganz ohne das Begleitprogramm der MIP London sind die London Screenings mit immer mehr teilnehmenden Medienhäusern und deren Präsentationen inzwischen auf eine ganze Woche angewachsen. Nicht alle sehen darin einen Mehrwert: Die Screenings in Eigenregie bewerten mehrere deutsche Besucher*innnen als zu lang für zu wenig Innovation. Gelobt wurde die smarte Idee des kleinen belgischen Player Be Entertainment, Besucher*innen der London Screenings im umgebauten Taxi zum nächsten Termin zu fahren - und diese Fahrt für einen Taxi Pitch zu nutzen. Mehrfach wurde es als „frech“ bezeichnet, wenn große internationale Distributionshäuser ernsthaft mit alten Formaten „Zeit verschwenden.“ Verwunderung löste etwa Warner Bros Discovery aus, wo das 2007 gelaunchte Format „Say yes to the dress“ den Weg in die Präsentation schaffte. Mehrfaches Lob gab es hingegen für das Fox-Screening.
- „Der Markt ist weiter angespannt“. Stimmung „abwartend bis mau“: Ein solches Klassentreffen wie die Woche in London ist immer auch ein Stimmungs-Barometer. Das fiel durchwachsen aus, daran änderte auch eine ungewöhnliche sonnige Woche in Großbritannien nichts. Enttäuschend sei, dass manche Screenings aus der Zeit gefallen wirken. „Auf Produzenten- und Lizenzgeber-Seite geht alles weiter wie bisher. Format um Format um Format - aber ohne auf neue Gegebenheiten und Seh-Motivationen des Publikums einzugehen“, sagt ein Besucher. Die Nöte vieler Sender und Plattformen würden nicht adäquat adressiert. Ein Einkäufer: „Stichwort: Wie horizontal muss etwas erzählt sein, damit es digital funktioniert? Wie wenig horizontal kann es gleichzeitig sein, um linear zu funktionieren? Dazu hörte man wenig.“