Ein dickes Brett hatte sich die Civis-Medienstiftung ohnehin schon vorgenommen. Am Tag nach dem Attentat von Aschaffenburg wurde es nur umso dicker. Die Frage nach dem Agenda-Setting rund ums Thema Migration und nach der Verantwortung der Medien stand im Zentrum des zweiten Civis-Mediendialogs, der am Donnerstagabend in Berlin stattfand. Ob Journalisten "zu wenig, zu vorsichtig und verharmlosend" über Flucht und Zuwanderung berichten oder sich "zu oft auf Migration und deren Probleme" konzentrieren, wollte die von WDR und Freudenberg-Stiftung getragene Einrichtung unter Verweis auf häufig gegenläufige Vorwürfe diskutieren lassen.
Dass selbst ein ernsthafter Abend wie dieser die Frage nicht abschließend klären konnte, mag kaum verwundern. Immerhin gelang es, Selbst- und Fremdwahrnehmung der medialen Berichterstatter sowie deren vielfältige Herausforderungen aufzufächern. Sie sehe beim Thema Migration "an jeder Stelle Getriebene", gab "Welt"-Chefredakteurin Jennifer Wilton zu Protokoll. Der Umgang der Medien mit dem Komplex stehe nicht im luftleeren Raum, sondern sei allerorten von "großen Zwängen und verringertem Spielraum" geprägt. Auch für Politiker sei es objektiv viel schwieriger geworden, mit rein sachlicher, abgewogener Kommunikation durchzudringen.
Von Moderator Leonard Novy auf eine Studie des "Mediendienstes Integration" von 2019 angesprochen, laut der die "Welt" unter allen großen Tageszeitungen mit Abstand am meisten über die positiven Chancen von Einwanderung berichtete, legte Wilton auch die Kehrseite offen: "Ja, wir tun das nach wie vor, aber die positiven Geschichten sind nicht die, die am stärksten geklickt werden." Angesichts der ökonomischen Zwänge und des rückläufigen Vertrauens in Massenmedien müsse man die Interessen und Bedürfnisse des Publikums in der Berichterstattung durchaus berücksichtigen. In eine ganz ähnliche Richtung argumentierte Shakuntala Banerjee, Leiterin der ZDF-Hauptredaktion Politik und Zeitgeschehen. Vor einigen Jahren habe das ZDF über einen längeren Zeitraum hinweg versucht, in der Samstagsausgabe der "heute"-Sendung die "gute Nachricht der Woche" als feste Rubrik zu etablieren. Das Resultat: "Die Zuschauer haben reihenweise weggeschaltet", so Banerjee.
Die Frauen aus der journalistischen Praxis reagierten damit auf eine Anregung aus der Wissenschaft: "Weniger ereignisorientierte, sondern kontinuierlichere, ausgewogenere und konstruktivere Berichterstattung" sei zum Themenfeld Migration wünschenswert, plädierte Nayla Fawzi, Professorin für Kommunikationswissenschaft an der Mainzer Gutenberg-Uni. Denn: "Journalistische Medien spielen weiterhin eine wichtige Rolle für die Meinungsbildung der Bevölkerung." Das Vertrauen speziell in die mediale Berichterstattung über Flucht und Zuwanderung sei im Durchschnitt geringer als bei anderen polarisierenden Themen wie etwa dem Klimawandel. Zudem stoße man auf völlig unterschiedliche Wahrnehmungen ein und derselben Berichterstattung, fasste Fawzi die Studienlage zusammen.
Ob man daraus allerdings den Schluss ziehen kann, mitten in einem ohnehin schon aufgewühlten Wahlkampf – und im Angesicht wiederholter tragischer News-Lagen wie nach Mannheim, Solingen, Magdeburg oder eben jüngst Aschaffenburg – den journalistischen Blick vom Ereignis weg aufs Konstruktive zu lenken, klingt für die Nachrichtenprofis unrealistisch. "Es ist Teil unserer Wächterfunktion in der Demokratie, kritisch auf das zu schauen, was falsch läuft", entgegnete ZDF-Frau Banerjee. Auf einen starken Einflussfaktor weit jenseits journalistischer Medien verwies Vize-Regierungssprecherin Christiane Hoffmann: Ausländische, vor allem russische, Desinformationskampagnen griffen immer wieder das Thema Migration auf, um Narrative wie "In Deutschland ist der Teufel los" zu verbreiten.
Warum das so funktioniert, erklärte die Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach von der FU Berlin: "Migration ist als Thema gut politisierbar und polarisierbar, weil es für viele Menschen ans Eingemachte geht. Da spielen Verhaltenszumutungen und Statusverlustsorgen eine Rolle." Da in der Gesellschaft kein großes Vertrauen mehr in die Fähigkeit der Politik bestehe, Migration wie behauptet zu kontrollieren, wären Medien schlecht beraten, die Probleme nicht anzusprechen. "Nur weil wir alle gegen Rechtsextremismus auf die Straße gehen, ist noch keine Migrationsfrage gelöst", so Reuschenbach. "Wir beschäftigen uns wahnsinnig viel mit den Rändern der Gesellschaft." Dabei gerate manchmal die gesellschaftliche Mitte aus dem Blickfeld, die nicht per se fremdenfeindlich sei, aber die handfesten Auswirkungen der staatlichen Überforderung im Alltag sehe. Ein Aufruf zur Schärfung der Perspektive, der sich konstruktiv aus dem Abend mitnehmen lässt.