Das Finnische zählt zur Sorte Sprachen, die man wohl nur der Liebe, Arbeit, Herkunft wegen lernt. Null Ähnlichkeit zur deutschen, nutzt sie 15 Fälle und Buchstaben, die in Reihe geschaltet gern Wortungetüme wie Lentokonesuihkuturbiinimoottoriapumekaanikkoaliupseerioppilas ergeben. Grob mit Flugzeugturbinenmechanikerazubi übersetzbar, ist es zwar dreimal länger als Onnettomuustutkinta, aber (außer für Flugzeugturbinenmechanikerausbildungsazubis vielleicht) nur halb so fesselnd.

Denn die 19 Buchstaben auf dem Rücken der Unfallermittlerin Marita deuten an, dass ihr Einsatzort mit katastrophal noch dezent beschrieben wäre. Die halbstaatliche Investigativ-Einheit zwischen Kriminalpolizei und Innenbehörde wird ja nur gerufen, falls eine Havarie so fatale Folgen hat wie zu Beginn der finnisch-deutschen Dramaserie „Seconds“. Eben wollte Marita noch in einen der Abertausend Seen ihrer bezaubernden Heimat springen, da findet sie sich also am brennenden Abgrund von Pyhäniemi wieder.

Bei einer mutmaßlichen Kollision zweier Züge in der Kleinstadt nördlich von Helsinki kamen mehr als 60 Menschen ums Leben. Es ist die verheerendste Katastrophe Skandinaviens seit dem 2. Weltkrieg. Und weil ihre Umstände rätselhaft bleiben, soll Maritas Team Licht ins Dunkel der Explosion angeblich leerer Gefahrenguttanks bringen, die eine Kettenreaktion entfesselt haben – physikalisch, aber auch politisch, gesellschaftlich, menschlich.

Denn während die Rettungskräfte verkohlte Leichen aus dem Chaos bergen, sticht Onnettomuustutkinta in ein Wespennest, dessen Stachel bis zur Hauptstadt reichen. In sechs Folgen à 50 Minuten geraten erst der Zugführer, potenzielle Brandstifter, die Wirtin einer Bahnhofskneipe, dann Behörden, Bahn, das neue, exportorientierte KI-Verkehrsleitsystem Futurail ins Fadenkreuz von Ermittlungen verschiedenster Stellen, die von Anfang an eher mit- als gegeneinander erfolgen.

Das ist bereits zu spüren, als die Trümmer noch rauchen. Wenn die routinierte Marita (Leena Pöysti) und ihr junger Kollege Daniel (Mikko Kauppila) gegen den Willen der Feuerwehr fordern, vorm Ende der Spurensicherung keine Toten abzutransportieren zum Beispiel. Oder Verkehrsministerin Wessman (Lotta Kaihua) Maritas Chef Aarne (Teijo Eloranta) auffordert, stolze 1,65 Milliarden Euro, die Finnland in seine Schienensicherheit investiert, nicht infrage zu stellen. Und dann wären da noch die Eltern einer Gruppe Jugendlicher, von denen nur eines aus der brennenden Bar entkommen ist, aber niemand weiß, welches.

Seconds © NDR/Herkki Erich Merila/Fire Monkey, Im schlimmsten Augenblick ist Eero (Juho Milonoff, r.) für Marita (Leena Pöysti, l.) da.

Klingt alles nach klassischem Who-dunnit-Stoff im ortüblichen Skandi-Noir-Stil, ein genretypischer What-happened-Thriller im Dämmerlicht nordischer Film- und Fernseh-Tatorte, die Regisseur Mikko Kuparinen mit spürbarer Liebe zu Mensch und Natur ausbalanciert. Doch am Ende ist die Fallauflösung zwar ungemein fesselnd, aber eigentlich ein wenig egal. So virtuos sie sich von Folge zu Folge vorwärts schiebt, steht schließlich was anderes im Fokus von Laura Suhonens brillantem Drehbuch.

Es ist die Psyche aller Beteiligten solcher Katastrophen im Zeitalter sozial-medial aufgeheizter Öffentlichkeiten, vor allem aber das Innerste der Hauptfigur. Die Kamera rückt der unprätentiösen Leena Pöysti nicht nur bei jeder Gelegenheit auf die Pelle; sie vollführt geradezu Seelenwanderungen und entdeckt dabei die Fähigkeit der spröden Mittvierzigerin, ihre Zeugen bei der Vernehmung in deren Erinnerungen zu begleiten. Buchstäblich.

Flashbacks sind daher keine Rückblenden, sondern Zeitreisen, die – so gehen moderne Krimierzählungen – verschüttete Traumata offenlegen. Die junge Frau, mit der Marita regelmäßig Ermittlungsfortschritte diskutiert, ist demnach ihre verunglückte Schwester, für deren Tod sie sich auch 30 Jahre später mitverantwortlich fühlt. Alles bisschen mystisch, aber nichts esoterisch, geschweige denn Fantasy. „Seconds“ unternimmt einfach Erkundungsreisen in die Gefühlshaushalte zivilisationsmüder Charaktere. Und allein dafür würde es sich schon lohnen, Finnisch zu lernen.

Erst im Original mit (vorerst englischen) Untertiteln kommt die Melancholie einer monatelang abgedunkelten Nation zum Tragen, die ein kollektives Alkoholproblem durch ewige Winterwochen trägt. Umso höher ist es Mikko Kuparinen anzurechnen, dass er seine Drohnen nicht dauernd über wolkenverhangene Wälder kreisen lässt. Während die Stimmung dem Anlass angemessen trübe ist, darf der finnische Sommer sonnig sein und gelegentlich sogar gutgelaunte Geselligkeit hervorbringen wie das Saufspiel von Maritas privat befreundetem Team.

Wenn es monatlich wechselnde Katastrophenfilme schaut, müssen alle fiesen Schnaps trinken, sobald darin geschiedene Expartner küssen, das Radio versagt, ein Hund gerettet wird oder jemand durch Feuerbarrieren bricht. Bei „Dante’s Peak“, den Eddy (Jasir Osman) wählt, wird vor lauter Klischees also unentwegt gebechert. Aus sozialmedizinischer Sicht destruktiv, ist das ein Beleg gelungener Integration, die gekonnt das Vorurteil eigenbrötlerischer Finnen zerlegt und zeigt, warum der NDR gern öfter mit YLE kooperieren darf.

Nach der Terror-Studie „Helsinki-Syndrom“ ist „Seconds“ die zweite Produktion des deutschen Senders mit dem finnischen seit 2022. Und sie besteht nicht nur alle fünf Minuten den Bechdel-Text autonomer Frauen in tragender Rolle, sondern beweist Mut zur kommunikativen Lücke. Als Daniel beim Anblick einer Leiche am Unfallort erstarrt, fasst Marita ihm schweigend an die Schulter und kreiert so einen Moment brüllender Stille, die ZDF-Thriller mit didaktischem Gefasel zerdeppert hätten. Hier sägt bloß Ville Katalajas Soundtrack leise am Gemüt und lässt die Bilder wirken. Das ist gut 300 quälend langsame Minuten von gewaltiger emotionaler Dringlichkeit oder wie es auf Finnisch hieße: voimallinen emotionaalisesti kiireellisyys.

"Seconds", ab dem 7. September in der ARD-Mediathek abrufbar sowie am 21. und 28. September ab 23:00 Uhr im NDR Fernsehen