Wenn man zufällig ein gestrandetes Boot entdeckt, auf dem sich zwei Leichen sowie Tonnen von Kokain befinden, dann gibt es verschiedene Arten, darauf zu reagieren. Ein naheliegender Impuls könnte sein, so wie Janet (Daisy Haggard) die Polizei rufen zu wollen. Man könnte allerdings auch so wie Samuel (Paterson Joseph) davon ausgehen, das Leben mache einem hier gerade ein Angebot oder – im englischen Original noch viel schöner als in der deutschen Synchro – die Welt werfe einem einen Knochen hin.

Janet und Samuel, die Antihelden von "Boat Story", sind nämlich mehr oder weniger unschuldig vom Schicksal gebeutelt. Mehr im Fall von Janet, die als Fabrikarbeiterin bei einem Arbeitsunfall ihre Finger verloren hat. Weniger bei Samuel, der als korrupter Anwalt von seiner Spielsucht geplagt wird. So oder so könnten beide ein paar Millionen, die mit dem Koks zu machen wären, gut gebrauchen. Worauf sie sich einlassen, ahnen sie nicht.

Die spontanen Laien-Drogenhändler an der Küste von Yorkshire stammen aus der Feder der Brüder Harry und Jack Williams, deren Talent für ebenso fesselnde wie intelligente Thriller-Drama-Kombinationen von "The Missing" über "Liar" und "Baptiste" bis hin zu "The Tourist" gut dokumentiert ist. Umso erstaunlicher, dass sie ihren gewohnten Erfolgsstil für "Boat Story" in die Ecke gestellt haben. Ein Off-Erzähler führt mit Märchenstimme in die Geschichte ein, Zwischentitel wie beim Stummfilm signalisieren ironische Brechung. Wüsste man es nicht besser, könnte man meinen, nicht die Williams-, sondern die Coen-Brüder seien hier am Werk, oder vielleicht Tarantino. Jedenfalls stürzt sich die Erzählung mit Lust und Hingabe ins Absurde, Schwarzhumorige und Brutale. Konventionelle Genre-Grenzen werden dabei vorsätzlich ignoriert.

Die ganz pragmatische Frage, ob man einen so riesigen Drogenfund einfach an sich nehmen und verscherbeln kann, ohne dass es jemand – zum Beispiel der eigentliche Besitzer – merkt, weiß das Publikum schon vor Janet und Samuel zu beantworten. Denn die Serie springt nach Paris ins Schneideratelier eines formvollendeten Gentlemans namens "The Tailor" (Tchéky Karyo). Unter dessen perfekter Hülle steckt ein blutrünstiger Drogenschieber, der gerade dabei ist, einem Spitzel akribisch die Zunge abzutrennen.

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Von da an wird es noch düsterer, spannender, gewalttätiger, witziger und überraschender. Kurz darauf steht der Tailor in Yorkshire auf der Matte, um sein Koks zu suchen. Während seine Schergen ein komplettes Polizeirevier auf der Suche nach der Asservatenkammer meucheln, als seien sie in einem Killerspiel, schockverliebt er selbst sich ins lokale Gebäck und in die Konditorin Pat (Joanna Scanlan). Ohne weitere Details zu verraten, bekommen Janet, Samuel und ihr Umfeld bald zu spüren, dass ihre Tat nicht ohne Folgen bleibt.

Die Williams-Brüder gehen ein hohes Risiko ein, indem sie sich in einer von ihnen bisher nicht gekannten Tonalität bewegen und dann auch noch so viele Bälle auf einmal in die Luft werfen. Ein Teil der Handlung wird sogar – Achtung, Metaebene! – als Musical auf einer Theaterbühne gespielt, weil Janet und Samuel die Rechte an ihrer Geschichte im Nachhinein lizenziert haben. Doch das Experiment geht auf, weil es den Showrunnern gelingt, die verschiedenen Genres mit scheinbarer Selbstverständlichkeit zu verweben und Effekthascherei zu vermeiden. Dank origineller Figuren und unvorhersehbarer Plottwists fühlt sich die oft gesehene Prämisse "Menschen, die eigentlich keine Dealer sind, finden Drogen und versuchen sie zu Geld zu machen" bei "Boat Story" frisch an.

Auch wenn die Gewaltdarstellung für zart besaitete Zuschauer sehr weit gehen mag, so steht sie doch in einer Balance zu den moralischen Fragen, die der Sechsteiler aufwirft. Bei allem schwarzen Humor werden die Hauptfiguren immer wieder mit existenziellen Entscheidungen rund um Verantwortung, Loyalität oder schlicht Überlebenswillen konfrontiert, die sie je nach persönlichem Dilemma ganz unterschiedlich auflösen.

Dabei besticht "Boat Story" durch seine herausragende Besetzung: Daisy Haggard, bekannt aus "Breeders", "Back to Life" und "Episodes", zeigt einmal mehr ihre Fähigkeit, komplexe emotionale Rollen zu verkörpern, denen eine unterschwellige Komik, jedoch nie Lächerlichkeit, zu eigen ist. Paterson Joseph ("Vigil", "Noughts + Crosses") überzeugt mit der anrührenden Darstellung eines Mannes, der versucht, seine zerbrochene Existenz zu retten, während er immer tiefer in kriminelle Machenschaften verstrickt wird. Nach vielen Jahren auf der Ermittlerseite in "The Missing" und "Baptiste" darf Tchéky Karyo als Tailor bedrohliche Präsenz zeigen, die gleichermaßen erschreckend und faszinierend wirkt.

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