Bullerbü ist abgebrannt. Das ist seit abertausend Ritualmorden, die depressive Polizisten à la Wallander mit traurigem Blick lösen, zwar keine Überraschung mehr. Aber so lichterloh, wie aktuell bei Netflix stand Astrid Lindgrens frühlingsfrisches, sommermildes, herbstzeitbuntes, winterweißes Schweden noch nicht in Flammen. Der 14-jährige Douglas (Olle Strand) – daran lässt „Mit zitternden Händen“ von Anfang an keinen Zweifel – hat seinen Kumpel Bilal (Yasir Hassan) erschossen. „Dogge“ wird verhaftet. Die Gesellschaft ist schockiert. Das Motiv bleibt unklar. Kurz zumindest.

Denn von hier an bewegt sich das weiße Mittelschichtkind im Reverse Chronology genannten Wechsel von Rück- und Ausblick auf den migrantisch geprägten Abgrund der Organisierten Kriminalität zu, wo Bandenchef Mehdi (Solomon Njie) Opfer und Täter erst zu Dealern, dann zu Killern machen will. So läuft’s halt am betonierten Rand des pittoresken Stockholms: Der überforderte Rechtstaat verbindet sich mit sozialer Verwahrlosung, institutionellem Rassismus, gesellschaftlicher Segregation zu einem Morast, in dem 1998 bereits „Kommissar Beck“ im Ersten versank.

„I dina händer“, wie Malin Persson Giolitos Romanvorlage der Drehbücher von Alex Haridi und Amanda Högberg heißt, schickt sein Personal demnach ins Brackwasser Hunderter Dramen Marke „Skandi Noir“, die seit Jahrzehnten erfolgreich sind, aber langsam auch leicht nerven. Dass der Fünfteiler nicht in Blutbad billiger Klischees ertrinkt, liegt deshalb an Anna Zackrisson. So übellaunig nahezu jeder Serienmoment ist, so virtuos verwandelt die preisgekrönte Regisseurin („So finster die Nacht“) Pathos in unprätentiösen Realismus.

Das Viertel, in dem Dogge und Billy auf die schiefe Bahn geraten, ist daher kein Plattenbauinferno wie Roberto Savianos „Gomorrha“, sondern bloß ein besonders rauer Außenbezirk mitteleuropäischer Gemeinwesen, in denen bessere Gegenden selbst für Gutverdienende längst unbezahlbar sind. Die Unterweltkarriere der Teenager ist folglich kein Automatismus, sondern Resultat perfider Überzeugungsarbeit. „Denk nicht drüber nach“, sagt einer von Mehdis Komplizen zum reuigen Dogge, „ich besorg‘ dir erstmal was zum Rauchen und was Süßes“. Danach setzt es wieder Druck statt warmer Worte.

Nähe und Abstand, Respekt und Erniedrigung, Schießspiele und Prügel, Zuckerbrot und Peitsche – solche Rekrutierungsmethoden sind der wahren Hauptfigur bestens vertraut. Kommissar Farid ist schließlich selbst arabischer Abstammung und dann auch noch praktizierender Muslim. Er lebt Tür an Tür mit Opfern und Tätern, ermittelt gegen die einen, während er den anderen hilft. Und Ardalan Esmaili spielt diese Figur zwischen den Stühlen von Beruf und Wurzeln, Unter- und Mittelschicht, Kopf und Bauch mit einer trotzigen Melancholie, an deren Intensität nur Olle Strand noch heranreicht.

Wenn sein Dogge wie die meiste Zeit ins Leere starrt, legt sich Rebekka Karijords sägender Soundtrack wie ein Tinnitus übers Gesicht des greisen Kindes, das seine Abstumpfung verstehen will, aber nicht kann. Zur Erklärung solcher Kiezbiografien hätten die – bis auf Billys Mutter Leila (Yusra Warsama) durchweg männlichen – Hauptfiguren zwar etwas ausführlichere Backstorys verdient. Dogges Abstieg ist durch die Krebserkrankung seines gutsituierten Vaters allein kaum erklärbar. Über Farids Privatleben erfährt man nahezu gar nichts. Dass es 200 Minuten lang keinen Moment der Erlösung gibt, ist auch deshalb schier unerträglich.

Doch Anna Zackrisson lindert den Schmerz mit einer kriechenden Bild- und Tonsprache, die sie vor 21 Jahren als Regieassistentin des erstem Wallander-Films gelernt hat und in der winterdunklen Kulisse Stockholms maximale Wirkung entfaltet. Selbst der Schnee ist da kein schall- und gefühlsschluckender Teppich; er verkriecht sich förmlich in den Nischen unbelebter Straßen und Häuser. Als Erinnerung daran, wie kalt Skandinavien auch ohne Organisiertes Verbrechen mitunter ist. Verantwortlich, wenn nicht gar schuld ist ein paternalistisch wohlmeinender, irgendwie unangenehmer Philorassismus nordischer (oft abgeschotteter) Gesellschaften, den Anna Zackrisson beiläufig einfängt.

Fast unmerklich legen bioschwedische Filmfiguren gut 25 Zentimeter zu viel Abstand zwischen sich und Zugewanderte wie die Nigerianerin Leila und ihre vier eingeborenen Kinder. Die Distanz zwischen innen und außen, „wir“ und „die“ wird damit kaum sicht-, aber unterschwellig spürbar und entfaltet damit nur noch toxischere Wirkung. Atmosphärisch bleibt „Mit zitternden Händen“ daher zwischen Züli Aladağs preisgekröntem, heiß diskutiertem Integrationsdrama „Wut“ von 2006 und der schwedischen Schulmassaker-Serie „Quicksand“ (ebenfalls nach einem Roman von Malin Persson Giolitos) 13 Jahre später.

Während ersteres den Fokus auf armutsverwahrloste Kriminalität legt und letztere auf wohlstandsverwahrloste, spielen beide denkwürdig im Grenzbereich von Unter- und Mittelschicht. Würde sich „In dina händen“ nicht ab und an in seiner sedierten Langsamkeit verlieren, wäre es zwar noch ein bisschen eindrucksvoller. Auch so aber gelingt Netflix damit ein fesselndes Stück Sozialkritik aus Kommissar Wallanders brennendem Bullerbü.

"Mit zitternden Händen" steht bei Netflix zum Streamen bereit.