Marga geht’s gut. Richtig gut sogar. So gut eben, wie sich vermutlich jede derart lebenshungrige Spanierin fühlt, die am Strand von Barcelona im Kreis ihrer Freunde bekifft in den Morgen hinein dämmert und danach nur ein paar Meter heimwärts wanken muss, wo ein schickes Appartement mit Meerblick auf die 29-Jährige wartet. Nicht so gut geht es dagegen Laia, die dort auf sie wartet und schimpft, wo Marga die halbe Nacht gewesen sei. Denn während deren Freizeitbedürfnisse absolut altersgerecht, also normal sind, ist es ihr Geisteszustand auch ohne Flausen und Gras im Kopf weniger.
Marga ist ein, so drückt es ihre Betreuerin Laia aus, "Mensch mit funktionaler Diversität". Einst "geisteskrank", gilt sie medizinisch als "mental retardiert" oder in den Worten des Bundesbehindertenbeauftragten: "Intellektuell beeinträchtigt". Wie ihre drei Mitbewohnerinnen befindet sich Marga kognitiv also eher auf Vor- als Hochschulniveau. Unterhalb der soziokulturellen Norm jedenfalls – womit wir uns mitten im Kulturkampf der spanischen Tragikomödie "Simple" um die außergewöhnlichste Serien-WG seit "The Big Bang Theory" befinden.
Neben der freiheitsliebenden Marga (Natalia de Molina), besteht sie aus der lernverzögerten Ángels (Coria Castillo), ihrer soziopathischen Cousine Nati (Anna Castillo) und deren zurückgebliebenen Schwester Patri (Anna Marchessi, einzige Darstellerin mit Handicap). Ob sie "Krankheiten" oder bloß Kratzer haben, ob sie daran "leiden" oder doch eher an den Konventionen der Gesellschaft, ob das Quartett eigensinniger Außenseiterinnen unnormal ist oder analog zu Rosa von Praunheims Bonmot nicht eher die Situation, in der sie leben: All dies dekliniert das Drehbuch von Anna R. Costa nach Cristina Morales Bestseller "Lectura Fácil" fünfmal 35 Minuten durch, ohne didaktisch zu sein.
Regisseurin Laura Jou hat daraus folglich ein Fernsehwunder mit Alleinstellungsmerkmal gemacht. 50 Jahre, nachdem die ARD-Serie "Unser Walter" ein fiktionales "Sorgenkind" mit Down-Syndrom – damals "mongoloid" genannt – zur Titelfigur erkoren hatte, sind besagte "Menschen mit funktionaler Diversität" nicht annähernd die Bildschirmregel. Das bestätigen seltene Ausnahmen. Schon 1987 schaffte es Patrick Bachs Rollstuhlfahrer Rainer im Weihnachtsmehrteiler "Anna" zum süßen Sympathieträger, was Florian David Fitz 23 Jahre später als "Vincent will Meer" mit Tourette-Syndrom gelang. Und der kleinwüchsige Tyrion Lennister überlebte als einer der wenigen das Dauergemetzel im "Game of Thrones".
Ihre (noch so ein abschätziger Begriff) Gebrechen sind allerdings physischer Art, weshalb die Skripte den Betroffenen mehr Raum zur Persönlichkeitsentfaltung ließen. Der selbstbestimmteste Filmcharakter mit geistiger Beeinträchtigung bleibt dagegen bis heute die Feelgood-Ikone "Forrest Gump". Auch sie natürlich: ein weißer Mann. Bis jetzt. Denn Jous katalanische Frauen-WG widerspricht der klassischen Rollenzuteilung schutzbedürftiger Objekte fürsorglicher Subjekte lautstark. Trotz aller Handicaps dürfen Marga, Nati, Ángels und Patri nämlich autonome, ja handlungsstarke Protagonistinnen sein.
Sie saufen und rauchen, feiern und vögeln, lachen und weinen, sie haben Sex und Partner, Jobs und Perioden, Skills und Macken, sie sind impulsgesteuert und kontrollsüchtig, offenherzig und engstirnig, nichts davon und alles zusammen oft in ein und derselben Sekunde. Es ist zum Heulen schön – und traurig. Denn ungeachtet all ihrer Möglichkeiten hängt die Eigenständigkeit am seidenen Faden anderer, fremder, meist bürokratischer Mächte.
Weil Ordnung unterm begrenzten Horizont niedriger Intelligenzquotienten eben nicht das halbe Leben ist, droht ihnen Laias kostenkalkulierende Sozialeinrichtung unablässig mit dem Wohnheim. Weil Margas Promiskuität bisweilen skurrile Blüten treibt, droht ihnen der Vermieter mit Kündigung. Weil Integration auch in Spanien nur über den Umweg der Segregation läuft, bleiben die vier bei aller Autonomie also Getriebene ihrer Unvollkommenheit. Das macht "Simple" zur sozialkritischen Anklageschrift einer Gesellschaft voller Vorbehalte gegen alles Normabweichende.
Vor allem aber ist das Format aus dem Hause BETA Film ein anrührendes, nie rührseliges Fanal wahrhaftiger Akzeptanz, dieser lebensklugen, bauernschlauen, hochempathischen, wunderschönen Schwester der gönnerhaften Toleranz – wundervoll verkörpert von Bruna Cusis bedingungslos parteiischer Sozialarbeiterin Laia. Wie sie einer Löwin gleich für ihre vier Schützlinge kämpft, wird deren Freiheitsdrang erst richtig spürbar. Die mögen schließlich relativ schlicht gestrickt sein; einfach machen sie es sich und allen nicht im Leben.
"Nenn mich bloß nicht behindert", motzt die autistische Nati in der Vorstellungsrunde des ersten Teils. Schließlich bringe "die Natur weder behindertes noch wertloses Leben" hervor, so was "findet nur in den bescheuerten Gefängniswärterhirnen statt, in denen es nichts als Gesetze gibt". Dass sich nun auch fiktive Frauen mit funktionaler Diversität dagegen auflehnen, ist herrlich anzusehen. Und nur ein Grund unter vielen (trotz der fürchterlichen Synchronisation) "Simple" in der ZDF-Mediathek durchzusuchten.
ZDFneo zeigt alle fünf Folgen von "Simple" am Dienstag, 16. Juli am Stück ab 22:45 Uhr, dann stehen sie auch in der ZDF-Mediathek zum Abruf bereit