Wer sich für die Historie des britischen Königshauses interessiert, kennt das tragische Schicksal der Neuntagekönigin aus dem 16. Jahrhundert. Im Alter von 16 Jahren beanspruchte Lady Jane Grey im Juli 1553 den Thron für sich, nachdem der minderjährige König Eduard VI. sie auf dem Sterbebett zu seiner Erbin erklärt hatte. Da jedoch Eduards Vater, Heinrich VIII., zehn Jahre zuvor bereits eine andere Erbfolge festgelegt hatte, wurde nach neun Tagen Maria I. gekrönt, die ihre Rivalin kurzerhand köpfen ließ.

Gemma Burgess, amerikanische Showrunnerin mit Wahlheimat London, interessiert sich nur bedingt für solche historischen Fakten. Geht es nach ihr, ist Lady Jane ein längeres Leben beschieden. So rekapituliert denn auch gleich zu Beginn ein Erzähler aus dem Off im höhnischen Ton, was den Tudors so alles widerfahren ist – um es dann mit einem deftigen "Fuck that" beiseitezuschieben. Die junge Jane, die das Publikum zu sehen bekommt, ist eine Fachfrau für Heilkräuter, die den vaginalen Juckreiz ihrer Zofe mit selbstgemachter Salbe kuriert. Dass es hier weder bieder noch höfisch zugeht, soll jeder auf Anhieb verstehen.

Mit der unschönen Aussicht einer Zwangsehe hat es freilich auch die fiktionalisierte Jane zu tun. Ihre durchtriebene Mutter, Lady Frances Grey, will Ehre und Vermögen der Familie absichern, was in damaligen Adelszeiten am besten durch gezieltes Einheiraten funktioniert. Für Jane ist der berüchtigte Lebemann Guildford Dudley, Sohn des Herzogs von Northumberland, auserkoren. Die freiheitsliebende Teenagerin sucht Hilfe bei ihrem geliebten Cousin, dem kränklichen König Edward, doch der hat ganz andere Sorgen – nämlich kriegerische Auseinandersetzungen zwischen "Verities" und "Ethians".

Spätestens an dieser Stelle verlässt die Serienhandlung irdische Realitäten: Bei den "Ethians" handelt es sich um Menschen mit magischen Fähigkeiten, die ihr Äußeres in Tierkörper verwandeln können. Janes Zofe Susannah ist so eine, die bei Bedarf als Vogel davonfliegt. Die "Verities" dagegen sind gewöhnliche Menschen wie Jane – bei "Harry Potter" würde man sie "Muggles" nennen. 

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Gesteuert von seinen intriganten Schwestern, den Prinzessinnen Mary und Bess, lässt Edward zu, dass die Gestaltwandler als vermeintliche Gefahr an den äußersten Rand des Königreichs verbannt werden, wo sie jagen, betteln oder stehlen müssen, um zu überleben. Derweil versucht Jane mit einer höchst amüsanten Mischung aus Naivität und Trickserei, die Eheschließung hinauszuzögern, und landet schließlich nach Edwards Tod selbst auf dem Thron. Dort tut sie ihr Bestes, um gerecht und ausgleichend zu regieren. Doch der Hass, den die Adligen gegen die "Ethians" säen, hat solch zerstörerische Kraft, dass sie andere Saiten aufziehen muss während ihrer Regentschaft, die – Spoileralarm – länger als nur neun Tage dauert.

Die Synopse mag abenteuerlich klingen, doch das Konzept Alternate History meets Fantasy meets Dramedy geht auf, weil "My Lady Jane" mit federleichter Hand erzählt ist. Burgess dosiert die Zutaten Magie, Romantik, Feminismus und mitunter derben Humor so geschickt, dass man sich gern aufs Abenteuer einlässt. Sie zeichnet – auf Basis der gleichnamigen Romanreihe – mutige, um nicht zu sagen wagemutige, Frauenrollen, die ihr eigenes Schicksal weitaus beherzter in die Hand nehmen, als es in der historischen Realität üblich war. Allen voran die von Emily Bader gespielte Jane, die in jeglicher Hinsicht so wild und freigeistig sein darf, dass die tragische, hauptsächlich für ihren Tod bekannte Figur ins totale Gegenteil verkehrt wird. Spaß macht aber auch die Erzbösewichtin Mary (Kate O'Flynn)  in all ihrem übertrieben verschwörerischen Machtstreben – eben eine andere Art von Kampfansage ans Patriarchat.

Obwohl der Achtteiler sich nicht sonderlich ernst nimmt und nie den erhobenen Zeigefinger auspackt, ist die feministische Botschaft klar erkennbar. Mehr noch: Wer genau hinsieht, wird unter der erfindungsreichen Fantasyhülle so manche Gesellschaftsanalyse und -kritik entdecken. "My Lady Jane" spielt durch, welche Folgen die systematische Ausgrenzung von Minderheiten hat und wie ungezügelter Fanatismus eine Gesellschaft zersetzt. Und so modern die Figur der Jane auch wirken mag – ein Manko tritt dann doch zutage, als sie Königin wird: Ihre privilegierte Adelserziehung hat sie mitnichten darauf vorbereitet, mit einem Sinn für Vielfalt aufs Volk zu schauen. So intelligent und respektlos kann Eskapismus sein.

"My Lady Jane", auf Prime Video