Die Höhle unserer Albträume hat viele Gänge, und Nicolas Winding Refn kennt sich nicht nur in jedem davon aus. Er orientiert sich dort auch gut im Dunkeln. Besonders dann. Schließlich illustriert der dänische Regisseur mit Vorliebe die finsteren Abgründe unserer Art. Er begleitet Dealern durchs Drogenmilieu, das selten toxischer war. Er begleitet Boxer durch Bangkok, das selten brutaler war. Er begleitet Models durchs Modemetier, das selten erbarmungsloser war. Er begleitet Wikinger durchs Mittelalter, das selten barbarischer war.
Wenn Winding Refn nun also durch Kopenhagen reist, zeigt sich die Unterwelt seiner hyggeligen Heimat toxischer, brutaler, erbarmungsloser, barbarischer als Film und Fernsehen die fahrradgerechte Hauptstadt normalerweise zeigen. Wer außer ihm ließe eine Netflix-Serie schließlich im Saustall starten, wo das Schreien der Schweine zur Kakophonie anschwillt, bis man sich fragt, was scheußlicher ist: der infernalische Lärm oder dass jemand dabei eine Frau erwürgt. In ästhetisierenden Close-up natürlich. So mag es der Grenzgänger zwischen Gothic, Arthaus, Hollywood auch in seiner neuesten Serie.
Warum sie "Copenhagen Cowboy" heißt, kann zwar nicht mal deren Schöpfer begründen. Aber wenn Nicolas Winding Refn erklärt, ihm hätte einfach die Wortkombination gefallen, ist fast alles gesagt über einen Sechsteiler, der sich mehr denn je im Überwältigungsmodus verliert. Seine Handlung ist daher ebenso überschaubar wie schleierhaft. Weil sie im Ruf magischer Kräfte steht, landet die wortkarge Miu (Angela Bundalovic) beim serbischen Zuhälter Andre, dessen ältere Schwester Rosella (Dragana Milutinovic) dank Mius Zauberkraft endlich schwanger werden will.
Ausgerechnet im Umfeld steriler Zwangsprostitution also soll sie einer Frau Ende 40 das Wunder des Lebens bescheren. Da ist es nicht zu viel verraten, dass Miu zwar den Garten ihrer Kundin, nicht aber deren Körper zum Blühen bringt. Rasch zu viel verraten wäre hingegen, was danach folgt. Ein weiblicher Rachefeldzug voller Dämonen realer wie surrealer Art bis hin zu Vampiren nämlich, bei dem Andres Gewaltherrschaft buchstäblich in Flammen aufgeht – allerdings nur, um Miu schnurstracks in die nächste zu führen.
Dramaturgisch setzt "Copenhagen Cowboy" Winding Refns Gangster-Epos "Too Old to Die Young" damit gewissermaßen auf Tarantinos Spuren fort und erinnert an dänische Absurditäten wie Lars von Triers Horrordystopie "Geister" oder Anders Thomas Jensens Horrorgroteske "Men & Chicken". Soziokulturell dagegen seziert er wie so oft männliche Machtsysteme, um deren Brutalität gleichzeitig zu verklären. Was dieses vom vorherigen Werk des Gewaltästheten unterscheidet, sind jedoch seine Protagonistinnen.
Dienten die vom Wikingergemetzel "Walhalla Rising" bis zur Laufstegstudie "Neon Demon" mehrheitlich als Accessoires toxischer Kerle, entwickeln sie hier nicht nur Eigeninitiative, sondern Durchschlagskraft. Die Beteiligung dreier Autorinnen – Sara Isabella Jønsson Vedde, Johanne Algren und Mona Masri – kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sein bisher diversestes Experiment abermals Winding Refns Fetisch feiert: der Optik.
Seit seinem Kinodebüt "Pusher" mit dem seinerzeit unbekannten Mads Mikkelsen als Kleindealer dreht er den Dreiklang zielführender Ästhetik form follows function schließlich nicht bloß um. Bild und Text, Kulisse und Content verschmelzen bei ihm zu einer mysteriösen Masse, in der weder Frauen noch Männer über ihre Figurenzeichnungen hinaus Charakter entwickeln. Auch "Copenhagen Cowboy" dreht sich fünf irre Stunden im Kreis – was Magnus Nordenhof Jønks Kamera so wörtlich nimmt, dass sie ständig um die eigene Achse rotiert.
Was sie einfängt, wird entsprechend oft als selbstreferenziell, ja selbstverliebt gescholten: äußerlich füllige, innerlich leere Skizzen im scharfkantigen Farbkontrast des farbenblinden Regisseurs, mehr Schein als Sein. Alles Fake also? Buchstäblich Ansichtssache! Auch dieses visuelle Faszinosum bietet schließlich mehr als Optik: Szenische Verdichtungen patriarchaler Gewaltstrukturen auf Gemälden, die zwar an Graphic Novels von Hieronyms Bosch erinnern, anders als Winding Refns Gesamtwerk aber relativ selten in Torture Porn abdrehen.
Und damit zurück auf Anfang, als der rätselhaft- dämonische Millionärssohn Nicklas (Andreas Lykke Jørgensen) den Tieren im Saustall vom Synthie-Sound drittklassiger Actionfilme der frühen Achtziger (Musik: Cliff Martinez, Peter Peter, Peter Kyed, Julian Winding) zersägt eine Frau wie in Guy Ritchies Gangstergroteske "Snatch" zum Fraß vorwirft und dabei plötzlich quiekt wie die Schweine ringsum. Pure Vorschlaghammer-Metaphorik, schon klar. Aber keineswegs falsch – frag mal "Die Ärzte"…
Männer sind hier seelisch derart deformiert, dass ihre Herrschaftsmechanik gar auf Beherrschte abfärben. Andres Prostituierte etwa, die in seiner Abwesenheit zwar übers Leben in seiner Bordellhölle klagen, untereinander jedoch ähnlich grob sind wie er zu ihnen. Oder Madame Hulda (Lili Zhang), deren Chinarestaurant vom 2. Teil an bildgewaltig fragt, ob Form wichtiger ist als ihre Funktion. Weil Nicolas Winding Refn Antworten wie üblich vorenthält, müssen wir sie selber finden. Die Suche danach ist schmerzhaft, bitterböse, bis zur Betäubung aller Sinne verlangsamt. Aber sie lohnt sich.
"Copenhagen Cowboy" steht bei Netflix zum Abruf bereit.