Rotlicht hat keinen allzu guten Ruf – steht es doch fürs urbane Abseits schummriger Ecken, in denen mit Prostitution, Gewalt, Menschenhandel und Drogen all das blüht, was von der Hamburger Reeperbahn über die Pigalle Paris bis ins Antwerpener Schipperskwartier halbseidene Sonderwirtschaftszonen prägt. Abweisende Viertel also, vor denen auch belgische Eltern ihre Kinder schon immer gewarnt haben.
Umso einladender ist es, wie Dika und Lovina bei ihrer Ankunft in einem Trailerpark am Rande von Flanderns Hafenmetropole begrüßt werden. Es gibt Kaffee, Gebäck und wohlige Willkommensworte von Sylvia, wie gut es den Osteuropäerinnen fern ihrer Heimat gehen werde. Zumindest bis zur achten Minute einer Serie mit dem sprechenden Titel "Red Light". Dann obduziert die Polizei eine Kollegin der zwei Zwangsprostituierten und zeigt, wie kühl es auch für sie trotz aller Nestwärme bald werden könnte.
Rotlicht, das zeigt Regisseur Wouter Bouvijn – dessen Remake der "Zwölf Geschworenen" 2019 ein Stück belgischer TV-Geschichte schrieb – aufs Neue, ist nun mal der trügerischste Ton im Farbspektrum. Er leuchtet bisweilen grell und erhellt doch nichts richtig. Er macht Unscheinbares sichtbar, verzerrt aber das Offensichtliche. Er dringt ins Unterbewusstsein vor, verbleibt trotzdem über der Oberfläche und lässt dort ein Serienformat im Ungefähren, das seinesgleichen sucht.
Zehn Dreiviertelstunden lang begleitet die niederländisch-belgische Koproduktion ihr Personal durchs Dickicht zweier Nationen im Umbruch. Jahrzehntelang liberale Herzen europäischer Integration, werden Drehorte wie Antwerpen und Amsterdam längst zwischen sozialer Spaltung, organisierter Kriminalität und Rechtsradikalismus förmlich zerrieben. Es ist ein dystopisches Szenario, in dem drei Frauen zugleich unabhängig voneinander und eng verbunden Halt suchen.
Die gefeierte Sopranistin Esther (Halina Reijn) wünscht sich nichts sehnlicher als ein Kind von Eric (Jakob Derwig), wird aber trotz ärztlicher Hilfe nicht schwanger. Die anschaffende Puffmutter Sylvia (Carice van Houten) ist Partnerin und Besitz des Schipperskwartierer Zuhälters Ingmar (Geert Van Rampelberg) in einem, der sie ständig zur Abtreibung zwingt, weil jeder Kunde Vater sein könnte, während die erschöpfte Kommissarin Evi (Maaike Neuville) zwar zweifache Mutter ist, damit allerdings noch schlechter klarkommt als mit ihrem Mann Goust (Joren Seldeslachts) in Alltag und Paartherapie.
Gesellschaftlich könnte das Trio um die 40 einander also kaum ferner sein. Dramaturgisch dagegen macht das Drehbuch aus dem Writers Room der Hauptdarstellerin Carice van Houten – "GoT"-Fans als Magierin Melisandre bekannt – lebensklug glaubhaft, wie sich die Wege der femininen Objekte maskuliner Subjekte nicht nur kreuzen, sondern verknoten. Bereits Mitte der ersten Folge ermittelt eine davon schließlich gegen die zweite, die wiederum mit dem Mann der dritten im Bett landet, was mit jeder Minute mehr im Showdown aller gegen (oder für) alle gipfelt, aber dennoch weder Anfang noch Ende hat.
So gelingt es "Red Light" buchstäblich spielend, drei Stockholm Syndrome emanzipierter Frauen, deren Eigenregie insgeheim unter Kuratel toxischer Beziehungen steht, einen Krimi im Rotlichtmilieu beizumischen, ohne dass eines übers andere die Oberhand gewinnt. Und diese Form der Darstellung weiblichen Empowerments ist nicht nur auf ebenso filigrane wie originelle Art fesselnd. Sie wirft auch ein Schlaglicht auf ihren Entstehungsort.
Denn besonders Belgien entwickelt sich seit geraumer Zeit zum europäischen Hotspot fiktionaler Wahrhaftigkeit am Abgrund der Zivilisation, ohne ganz hineinzustürzen. Ob "Zimmer 108" oder "Tabula Rasa", "Unit 42" oder "The Break", "Code 37" oder "Undercover" und zuletzt die Unsichtbarkeitsdystopie "Unseen": wann unser von sexuellem Missbrauch, islamistischem Terror, politischem Stillstand gebeuteltes Nachbarland auch immer Solidarität und Niedertracht fürs Fernsehen vereinigt, kreiert er mal magischen, mal echten Realismus, der gleichermaßen deprimiert und entertaint – ein Kunstgriff, der 2016 in Felix van Groeningens vielleicht besten aller Clubkultur-Filme "Café Belgica" kulminierte.
Hätte die Hamburger Synchronfirma DMT nicht nahezu alle Frauen ein, zwei Oktaven höher auf Lolitas gepitcht und viele Männer ein, zwei Schleifpapierlagen rauer auf Alphatiere – "Red Light" wäre auch auf Deutsch ein Serienereignis. Wer des Französischen mächtig ist, sollte daher aufs untertitelte Original wechseln; auch in (wie hierzulande leider üblich) sexistischer Übersetzung aber entfaltet es den melancholischen Trotz, der Serien aus BeNeLux aktuell so besonders macht.
Und das Beste: David Martijn und Jeroen Swinnen leiten ihre Musik so dezent in Bouvijns Gesellschaftsdrama, dass der Soundtrack kaum hörbar ist und gerade deshalb so laut wie die geflüsterten Dialoge. "Ich dachte echt, dass das’n guter Kerl ist", meint Sylvia, nachdem ein Freier sie verprügelt hat. "Keiner is’n guter Kerl", antwortet ihre Kollegin tonlos und kurz herrscht Stille. Damit wäre nämlich alles gesagt: Über die Männer, das Leben, über Liebe und Macht und Mutterschaft und eine Serie, in der alles zusammenfließt wie ein langer ruhiger tosender Fluss.