Niemand lässt sich gern in eine Schublade stecken. Bei Serien, die zwischen Drama und Comedy changieren, ist das ohnehin schwieriger geworden, seit die Flut der vergangenen Jahre unzählige Genre-Hybride hervorgebracht hat. Auch "Lust" entzieht sich einer vorschnellen Kategorisierung, was schon daran erkennbar ist, dass es voriges Jahr sowohl den schwedischen Fernsehpreis "Kristallen" als beste Comedy-Serie gewann wie auch für die Rose d'Or als beste Drama-Serie nominiert war.
Auch Sofia Helin hatte keine Lust auf die ewige Nordic-Noir-Schublade. Nachdem sie als Kommissarin Saga Norén in vier Staffeln "The Bridge" zu internationalem Ruhm gelangt war, fing sie lieber an, ihre eigenen Stoffe zu schreiben und zu produzieren, als weiter das naheliegende Krimi-Klischee zu bedienen. Nach der Anwaltsserie "Honour" (hierzulande auch bei RTL+) ist "Lust" das zweite Resultat aus ihrer Kreativschmiede.
Genauer gesagt, entstand die Idee im Gespräch mit Helins Kolleginnen Anja Lundqvist, Julia Dufvenius und Elin Klinga. Die vier Schauspielerinnen seien auf sie zugekommen mit dem Plan, etwas über weibliche Sexualität jenseits der 40 zu machen, so Produzentin Sandra Harms. Die Motivation: Seit sie selbst die 40 überschritten haben, seien die Rollen, die man ihnen anbiete, zusehends freier von jeglicher Sexualität geworden. Sofia Helin selbst gab überdies in einem Interview zu Protokoll: "Als wir über unser Privatleben und unsere Beziehungen sprachen, bemerkten wir, dass wir über alles sprechen konnten, außer über unser Sexualleben. Und damit sind wir nicht allein."
Harms, damals noch in Diensten der skandinavischen Fremantle-Tochter Miso Film, stellte den Schauspielerinnen den serienerfahrenen Drehbuchautor Frans Wiklund zur Seite, der sich nach eigenen Worten anfänglich wie der sprichwörtliche "Elefant im Raum" vorkam, dann jedoch vom kollaborativen Geist und der Offenheit der Frauen beflügelt worden sei. Aus dem ursprünglichen Plan, 45-minütige Episoden zu schreiben, wurden schließlich acht Halbstünder.
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Helin spielt in "Lust" die Meinungsforscherin Anette, die vom schwedischen Gesundheitsministerium den Auftrag erhält, eine Studie unter dem Motto "Make Sweden Sexy Again" durchzuführen. Darin soll der Zusammenhang zwischen nachlassender sexueller Aktivität von Frauen über 40 und der landesweiten Zunahme von Krankmeldungen untersucht werden. Nadia (Lundqvist), Ellen (Dufvenius) und Martina (Klinga), allesamt beste Freundinnen seit der gemeinsamen Schulzeit, werden ob Anettes Auftrag hellhörig, weil sie selbst so ihre wechselhaften Erfahrungen zum Thema beizutragen haben. Nadia hat eine Affäre mit ihrem Boxtrainer; Martina muss mit ihrem Ex und dessen junger Freundin unter einem Dach wohnen; Ellen erfährt gleich doppelte Alters- und Geschlechtsdiskriminierung; Anette und ihr Mann entscheiden sich für eine Paartherapie, weil's im Bett nicht mehr so recht läuft.
Jede Folge widmet jeder der vier Frauen in etwa die gleiche Erzählzeit, wobei der Schwerpunkt auf erotischen Missgeschicken und emotionalen Enttäuschungen liegt. Als roter Faden zieht sich die langsam wachsende Erkenntnis durch die Serie, dass die eigene Lust auch im etwas reiferen Alter ihre Berechtigung hat und nicht unterdrückt werden sollte. Der munter zwischen brachial und feinfühlig schwankende Humor sorgt dafür, dass die leichte Note stets im Vordergrund steht, auch wenn die Konflikte oftmals eine schmerzliche Schärfe ausstrahlen. Bemerkenswert ist die erzählerische Furchtlosigkeit, mit der "Lust" direkt ins Zentrum der mit Sexualität eng verbundenen Bedürfnisse, Selbstentblößungen und Peinlichkeiten vordringt.
Auch weil die Hauptdarstellerinnen ihre Figuren nüchtern und ehrlich, ohne jeglichen Comedy-Gestus, anlegen, vermittelt die Serie den Eindruck, als stamme sie unmittelbar aus den Tagebüchern von Frauen aus Fleisch und Blut. "Lust", das seine Weltpremiere auf der Berlinale 2022 feierte, war eine der wenigen skandinavischen Eigenproduktionen für die Streaming-Plattform HBO Max, ehe diese ihre lokalen Aktivitäten in den meisten europäischen Märkten abrupt beendete und die entstandenen Serien weiterverkaufte. So läuft "Lust" in seinem Heimatmarkt inzwischen bei SkyShowtime, in Deutschland landete es im Zuge des Output-Deals über Max Originals bei RTL+.
"Lust", auf Abruf bei RTL+