Wenn das wahre Leben die absurdesten Vorlagen liefert, entgehen Drehbuchautoren dem Vorwurf mangelnder Glaubwürdigkeit. Eine solche Vorlage trug sich 2001 in der portugiesischen Kleinstadt Rabo de Peixe zu, die mitten im Atlantik auf der Azoreninsel São Miguel liegt. Das Leben dort hängt stark von der Fischerei ab. Der Sage nach erhielt Rabo de Peixe – auf Deutsch Fischschwanz – seinen Namen einst, weil die Einwohner so arm waren, dass sie nur den Schwanz vom Fisch aßen und den Rest weiterverkauften.
Ungeahnte Reichtümer wurden 2001 angeschwemmt, als ein schwerer Sturm das Boot eines sizilianischen Drogenhändlers zum Kentern brachte, der mit großen Mengen Kokain von Venezuela nach Mallorca unterwegs war und diese notdürftig in einer Unterseehöhle versteckte. Weil die Verankerung riss, tauchten die Päckchen auf und trieben ans Ufer, wo neugierige Einheimische das weiße Pulver zum Frittieren von Speisen, Süßen von Kaffee oder für Linien auf dem Fußballfeld benutzten. Die Folgen: eine Überlastung des örtlichen Gesundheitswesens wegen massenhafter Überdosierung und eine Art Goldrausch-Chaos, weil der Stoff einen höheren Reinheitsgrad hatte als sonst auf dem Schwarzmarkt üblich.
Dass Rabo de Peixe 22 Jahre später seinen Namen und seine kuriose Geschichte einer Netflix-Serie leiht, scheint also irgendwie überfällig. Autor und Regisseur Augusto Fraga, der bislang hauptsächlich als Werbefilmer tätig war, erzählt seine fiktionale Version aus der Perspektive von Eduardo (José Condessa), einem jungen Mann, der vom Auswandern nach Amerika träumt und sich vom Leben ungerecht behandelt fühlt: die Mutter früh verstorben, der Vater nahezu blind und pflegebedürftig, eine Existenz an der Armutsgrenze, das erhoffte US-Visum abgelehnt. Zusammen mit seinen Freunden Rafael (Rodrigo Tomás) und Carlinhos (André Leitão) hält er sich mit Fischfang über Wasser. Die Vierte in der Clique ist Rafaels Freundin Silvia (Helena Caldeira), die in einer Videothek jobbt und die allgemeine Hoffnungslosigkeit der Männer teilt.
Als das Kokain am Strand landet, denken Rafael und Carlinhos zunächst vor allem an den Eigenkonsum, während Eduardo vom mutmaßlichen Wert angestachelt ist: Wo Dutzende Päckchen herkommen, muss doch noch viel mehr verborgen sein. Also nutzt er seine Segelkünste, errechnet den Fundort und kehrt mit 397 Kilo zurück, die fast 24 Millionen Euro wert sind. Er überredet seine Freunde, alles auf eine Karte zu setzen und ganz groß ins Koks-Business einzusteigen. Leichter gesagt als getan, denn hinter dem Fund sind auch noch die italienischen Drogenhändler her, die ihn verloren hatten, außerdem der örtliche Gangsterboss Arruda (Albano Jerónimo), der zugleich Silvias Vater ist, und die eigens aus Lissabon abbeorderte Kriminalinspektorin Frias (Maria João Bastos).
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Wollte man eine neue Drogen-Fabel konstruieren, indem man existenzielles Drama à la "Breaking Bad" mit grotesker Leichtigkeit wie bei "How to Sell Drugs Online (Fast)" vermengt, würden normalerweise sämtliche Alarmglocken läuten. Doch genau diese riskante Mischung geht bei "Rabo de Peixe" auf, weil Fraga Figuren entwirft, die ihrem sozialen Umfeld mit dem Mut der Verzweiflung entkommen wollen und mit denen man daher mitfiebert. Während Lokal- und Sozialkolorit mit Liebe zum Detail gezeichnet sind, legt der Plot ein solches Tempo vor, dass die sieben Episoden – der Thematik angemessen – beinahe wie ein zwanghafter Rausch erscheinen.
Im Gegensatz zu vielen anderen Aufsteiger-Storys, die auf der falschen Seite des Gesetzes angesiedelt sind, hinterfragen die Hauptfiguren hier immer wieder die moralische Implikation ihres Tuns, wohl wissend, dass es sich um den einzigen Ausweg aus ihrem trostlosen Dasein handelt. Hinter dem actionreichen Katz- und Maus-Spiel ums Kokain steckt somit eine vielschichtige Liebeserkläung an all die Träumer, die ihre Chance auf sozialen Aufstieg mit beiden Händen packen. Netflix hat im Juni bereits grünes Licht für eine zweite Staffel gegeben; Fraga verspricht eine "erheiternde und unerwartete Fortsetzung" von Eduardos Geschichte.
"Rabo de Peixe", im Original mit deutschen Untertiteln auf Netflix