"Du solltest entweder gestorben sein oder Alkoholiker, sonst interessieren sie sich nicht für dich." Was Caroline Sheridan während der Totenwache für ihre Großmutter über die eigene Familie sagt, mag drastisch klingen, erweist sich jedoch auch aus Zuschauerperspektive schnell als wahr. Was bei den trauernden Sheridans in der Dubliner Vorstadt passiert, erleben wir in erster Linie aus der Warte von Carolines älterer Schwester Shiv. Die lebt seit zehn Jahren in London, wo sie sich als Malerin mehr schlecht als recht über Wasser hält. In der alten Heimat scheint die seit einem knappen halben Jahr trockene Alkoholikerin nur bedingt willkommen, jedenfalls sprechen Eltern, Geschwister und sonstige Verwandte sie ständig auf ihre Sucht an.
"The Dry" sei nicht nur eine Serie über Abhängigkeit, sondern vor allem über Familie und über den menschlichen Willen, sich zu verändern, stellte die irische Theater- und Drehbuchautorin Nancy Harris in einem Interview klar. "Es war zwar wichtig, den Teil über die Sucht wahrheitsgetreu und mitfühlend zu erzählen, aber ich dachte, es wäre schrecklich, wenn es nur eine Serie über die Sucht werden würde. Es geht um das Leben, und wir haben alle Schmerzen, wir versuchen alle zu überleben, und wir treffen nicht immer nur brillante Entscheidungen."
Mit Dialogen, die treffsicher zwischen tiefem Schmerz und diebischem Vergnügen, zwischen Tragik und Komik navigieren, erreicht Harris ihr selbst formuliertes Ziel mühelos. Schon nach ganz kurzer Zeit ist einem das Figurentableau rund um Shiv ans Herz gewachsen, über das man acht Folgen lang wechselnd lachen, weinen und peinlich berührt sein kann. Denn natürlich reist Shiv nach der Beerdigung nicht gleich wieder ab, sondern liebäugelt vielmehr mit einem Neustart in Dublin – zum Missfallen der Familie, die in Shivs Gegenwart um ihr scheinbar makelloses Alltagsleben fürchtet.
Dessen Risse lassen sich nicht lange verbergen: Schwester Caroline (Siobhán Cullen) ist mit ihrer Bilderbuchbeziehung in Wahrheit unglücklich, Bruder Ant (Adam Richardson) hat einen Hang zu Koks und Orgien, Vater Tom (Ciarán Hinds) geht fremd, und Mutter Bernie (Pom Boyd) fühlt sich vom Nachbarn bedroht. Der einzige, der sich über Shivs Heimkehr aufrichtig freut, ist ihr draufgängerischer Ex-Freund Jack (Moe Dunford) – doch der hatte einst maßgeblichen Anteil daran, dass sie zur Flasche griff.
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Über sechs Jahre hat es gedauert, ehe Harris ihre Serienidee realisieren konnte. Als in London lebende Irin entspringen manche Aspekte der Dramedy ihrer persönlichen Erfahrung: "Ich vermisse meine Heimat so sehr, doch wenn ich dort bin, fühle ich mich nicht mehr ganz zu Hause. Ich gehöre nicht wirklich hierher und ich gehöre nicht wirklich dorthin. Man ist immer ein Außenseiter." Es ist also wohl kein Zufall, dass die Autorin aus der Außenseiter-Rolle ihrer Hauptfigur so viel zu destillieren vermag, indem sie sie auf all die verdrängten Konflikte ihrer dysfunktionalen Familie prallen lässt.
Zwei wesentlichen Mitstreitern ist es zu verdanken, dass die Umsetzung trotz mitunter schwerer Themen die gewünschte Leichtigkeit behält: Regisseur Paddy Breathnach veredelt die Vorlage mit Gespür für Figurenführung und Timing. Und Roisin Gallagher liefert in ihrer allersten TV-Hauptrolle als Shiv eine so überzeugende Mischung aus Zerrissenheit, Überwältigung und Energie ab, dass es ein Vergnügen ist, ihr dabei zuzusehen. "The Dry" lief voriges Jahr so erfolgreich in Irland und Großbritannien, dass seit Mitte Juni die zweite Staffel gedreht wird.
"The Dry – Sekt oder Selters" läuft in der ARD-Mediathek