Norwegen ist ein ambivalentes Land. Es lebt von der denkbar schönsten Landschaft (Fjorde) und der denkbar schädlichsten Ressource (Erdöl). Es ist international hochangesehen und dennoch zu patriotisch für den EU-Beitritt. Es kämpft seit jeher für die Rechte der Unterdrückten (Frauen) und lässt die Verfolgten (Flüchtlinge) ebenso lange schon abblitzen. Es brachte die Klimaschützerin Greta Thunberg hervor und den Nazikiller Anders Breivik. Es ist, in drei Worten, der ideale Ort für düstere Serien von „Lifjord“ über „Occupied“ bis „Jordskott“, eignet sich aber auch für leichtere wie „Lilyhammer“ und „Magnus“ oder eine, deren Name allein schon federt, als wäre es ein Wintermärchen.
„Weihnachten zu Hause.“
Was unterm Originaltitel „Hjem til jul“ sogar noch ein bisschen flauschiger klingt, ist allerdings weit mehr, als er verheißt. Nur wenige Wochen, bevor erst China, dann Norwegen und letztlich alle Welt ihre Grenzen dicht gemacht hatten, öffnete der Chefautor Kristian Andersen mit Kollege Amir Shaheen die Herzen derer, denen das winzig kleine Serienjuwel im wachsenden Wust neuer Netflix-Serien auffiel. Es waren nicht viele. Aber ihnen versüßte der Sechsteiler den Lockdown wie sonst nur Entschleunigung und Qualitytime – beides Aspekte, die „Hjam til jul“ auch atmosphärisch prägen und bei Rotten Tomatoes nahezu 100 Prozent Empfehlungen hervorbringt.
Dabei ist seine Story kaum weiter der Rede wert. Die Krankenschwester Johanne (Ida Elise Broch) führt mit ihrer durchgeknallten WG-Partnerin Jørgunn (Gabrielle Leithaug) das bestmögliche aller Leben des skandinavischen Bildungsbürgertums: Familie vereinigt, Freundeskreis solide, Auskommen gesichert, Job sinnvoll, alles gut also. Eigentlich. Denn mit Anfang 30 ist sie zwar gesellig, empathisch, attraktiv und belesen, aber Dauersingle. Sehr zum Leidwesen ihrer Eltern Jorid (Anette Hoff) und Tor (Dennis Storhøi), die Jahr für Jahr darauf warten, dass ihre Tochter einen Mann – also Enkel-Erzeuger in spe – mit zur gemeinsamen Weihnachtsfeier bringen.
So weit, so Romcom-typisch, wäre da nicht das famose Drehbuch für den fabelhaften Cast, allen voran Ida Elise Broch. Die Schwester vom „Beforeigners“-Star Nicolai Cleve verpasst ihrer Figur einen melancholischen Trotz, der sie bis zur Schmerzgrenze optimistisch von Desaster zu Desaster treibt. Auf Oslos schneebedecktem Asphalt, lernen wir zwischen Christbaumkauf und Festschmaus, sinkt mit abnehmender Temperatur nämlich auch das Niveau paarungswilliger Männchen (und Weibchen).
Morten oder Henrik, Sebastian oder Johannes, Stein oder Bente, von der lesbischen Eskapade Eira (Line Verndal) und ihrem alleinerziehenden Nachbarn (Edward Schultheiss) ganz zu schweigen: alle auf drollige Art verhaltensgestört, also irgendwie unterhaltsam, aber ziemlich bindungsuntauglich. Nur ein einziger Kandidat erweist sich – abseits von seiner verblüffenden Potenz – als einigermaßen geeignet: Jonas (Felix Sandmann), gespielt vom Hauptdarsteller der exzellenten Schulmassaker-Studie „Quicksand“ an gleicher Stelle und schon deshalb bestens als Partner geeignet. Ginge er nicht noch zu Schule.
Dass sich Regisseur Per-Olav Sørensen – in der 1. Staffel noch gemeinsam mit seiner Kollegin Anna Gutto – traut, eine Frau über 30 zumindest partiell mit einem Mann unter 20 zu verkuppeln, ohne dabei je in präpotenten Highschool-Humor zu verfallen, ist im Panoptikum zauberhafter Ideen der Serie vielleicht die beste. Noch origineller erscheint aber, dass The Oslo Company ihre liebenswerte Beziehungskatastrophenleichtigkeit auf Netflix nicht mit Konfliktvermeidung nachsüßen lässt.
Im Alltag der emotionsgestressten Johanne spielen Krankheit und Sterben, Einsamkeit und Armut, Misogynie und Rassismus folglich tragende Nebenrollen, ohne sich übers Komödiantische hinweg in den Vordergrund zu drängen. Gepaart mit einem Cliffhanger zur 2. Staffel, der den Begriff auch wirklich verdient, macht all dies „Hjem til Jul“ alias „Weihnachten zu Hause“ zur denkbar schönsten Love-Story einer denkbar lieblosen Zeit. Die Fortsetzung darüber hinaus ist angedacht, aber nicht bestätigt. Zeit wäre es. Die Spekulatius stehen ja fast schon wieder im Regal. Der nächste Lockdown kommt bestimmt.