Gedächtnisschwund ist überaus selten. Häufiger zwar als funktionsfähige Zeitmaschinen oder Ölbaron-Gattinnen, die nach jahrelangem Albtraum in einer weitergelaufenen Realität erwachen, aber definitiv weniger verbreitet als Zwillingsverwechslungen, mit denen die Amnesie eins gemeinsam hat: fernab statistischer Wahrscheinlichkeiten gilt sie als probates Mittel, um Film- oder Fernsehfiktionen aus der Patsche schwer erklärlicher Handlungsstränge zu hieven. Dass „Alma“ zu Beginn der gleichnamigen Netflix-Serie ihre Erinnerungen verliert, ist allerdings nicht nur ein durchschaubarer Drehbuchkniff, sondern der pure Selbstschutz.
Nach ihrer letzten Klassenreise stürzt der Bus einer Schar angehender Abiturienten im Hochgebirgsnebel ab, reißt die meisten Teenager in den Tod. Und wie Sergio G. Sánchez das Unglück mit Zeitlupen und Close-ups dehnt, Enthauptung inklusive, ist Verdrängung womöglich nicht die schlechteste Option – wäre denn das restliche Gedächtnis der spanischen Schülerin intakt geblieben. Doch als Alma (Mireia Oriol) im Krankenhaus zur Besinnung kommt, erkennt sie nicht mal ihr eigenes Spiegelbild. Was rings ums Wechselbad erwiderter und versagter Liebe am Vorabend der Katastrophe geschehen ist, bleibt somit ein Rätsel.
Und nicht nur das.
Waren da nicht geisterhafte Gestalten auf der Passstraße, dieses rote Licht, ein bedrohliches Brummen? Von alledem wird Alma – Illusion oder Realität – bei ihrer fiebrigen Suche nach der Ursache des rätselhaften Absturzes heimgesucht und grundiert damit einen Mystery-Thriller der ziemlich geschickt mit Ängsten spielt. Einer weitverbreiteten Furcht vorm Jenseits im Diesseits zum Beispiel, „Portale in andere Welten“, wie ein Sprecher am Anfang der Auftaktepisode mit düsterer Stimme aus dem Off raunt. Überhaupt: dieses Raunen.
Showrunner Sergio G. Sanchez („Das Geheimnis von Marrowbone“), der mit Teresa de Rosendo und Paul Pen auch die Bücher geschrieben hat, an Kike Maillos Seite Regie führt und auch sonst offenbar gern alle Fäden, zeigt in „Alma“ seinen Hang zum sensorisch spürbaren Gothic-Horror mit Psychothriller- und Coming-of-Age-Elementen. Dafür bedient er sich zwar nur selten echter Schockmomente, neigt aber gelegentlich zur melodramatischen Überhöhung, was aber – Achtung, Klischee – aus spanischer Produktion bemerkenswert wirkungsvoll ist.
Vielleicht liegt es an der kulturellen DNA von Flamenco bis Stierkampf, vielleicht am heiligen Ernst, den südeuropäische Schauspieler*innen deshalb oft ausstrahlen. Tatsache ist: wenn Alma und ihre Schicksalsgenossen wie der fußamputierte Tom (Álex Villazán) im Hier und Jetzt auf gespenstergleiche Versionen ihrer selbst treffen, passt die Aura des Unergründlichen perfekt zur bildgewaltigen Wucht, mit der spanische Fiktion oft versehen wird. Das zeigen seit geraumer Zeit diverse Serien von der iberischen Halbinsel.
Ganz gleich also, ob „Alive and Kicking“, mit der Magenta TV kürzlich den „Club der roten Bänder“ mit „The End of the F***ing World“ kombinierte. Oder der theatralische, aber ausdrucksvolle Beitrag Spaniens zur europäischen Netflix-Anthology „Criminal“, von Gangsterepen wie „Haus des Geldes“ oder „La Zona“ ganz zu schweigen: die Ergründung seelischer Untiefen funktioniert sogar in deutscher Übersetzung verblüffend gut; und das schon will was heißen. Denn obwohl sich Spanisch gut lippensynchron dolmetschen lässt, werden alle – natürlich vorwiegend siedend heiße – Frauen zwei Oktaven höher gepitcht als im Original, klingen somit eher nach Lolita-Porno als Grusel-Story. Und das ist dann doch der gröbere Horror als Sergio G. Sanchez surreales Schauermärchen.
In dem verwischen schließlich nach und nach alle Gewissheiten auf so komplexe Art, dass man höchste Konzentration dafür aufbringen muss. Selbst der Busabsturz war ja offenbar kein Unfall, sondern Folge einer Kette schicksalhafter Ereignisse bis tief in die Vergangenheit zahlloser Charaktere. Diesen Teenager-Albtraum zehnmal 45 Minuten zu verarbeiten, schaffen normalerweise zwar nur ausgewiesene Genrefans. Die aber werden wie so oft in letzter Zeit bestens von einer spanischen Serie bedient, in der Melodramatik zum guten Ton gehört, ohne ständig in Pathos zu münden. Amnesie hin, Gedächtnisschwund her.