Irgendwie erinnert der von Luis Callejo ("Malnazidos – Im Tal der Toten", "In from the Cold") gespielte Simón Lago ein bisschen an Hannibal Lecter. Wer als Schwerverbrecher im Gefängnis so kultiviert auftritt, so überlegen lächelt und dabei eine so bedrohliche Aura ausstrahlt, dem traut man zu, dass er schon im nächsten Moment Menschenhirn 'sous vide' genießen könnte. Doch Simón hat keinen Hang zum Kannibalismus, er ist "nur" ein berüchtigter Serienmörder, der 20 Frauen auf dem Gewissen hat. Warum die Medien ihm den Spitznamen "Kaiman" verpasst haben, ist schon im Opener zu sehen, als er sein jüngstes Opfer verstümmelt, langsam im Plastiksack ersticken lässt und schließlich lebendig begräbt.
So richtig beginnt "La noche más larga", zu Deutsch "Die längste Nacht", erst, als Simón am Abend des 24. Dezember verhaftet und in die psychiatrische Strafvollzugsanstalt Monte Baruca gebracht wird. Nur für eine Nacht, so der Plan, am nächsten Morgen soll er vom Untersuchungsrichter verhört und in ein modernes Hochsicherheitsgefängnis verlegt werden. Doch kaum hat Gefängnisdirektor Hugo Roca (Alberto Ammann) den ungewöhnlichen Insassen aufgenommen und von diesem ins Ohr geflüstert bekommen, es werde eine sehr lange Nacht, da umstellt eine bis an die Zähne bewaffnete Söldnertruppe den Knast, um Simón zu befreien. Der jedoch will gar nicht befreit werden, jedenfalls nicht von diesen Leuten. Im Gegenteil: Er will bleiben und unbedingt vor dem Richter aussagen. Anscheinend immer ein paar Züge voraus, hat Simón für diese Lage vorgesorgt: Seine Helfer haben Hugos Tochter Laura entführt und drohen damit, sie umzubringen, falls der Direktor ihn den Söldnern übergibt.
Aus der verworrenen Ausgangssituation entsteht rasch ein erbitterter Kampf, der Anleihen bei John Carpenters "Assault – Anschlag bei Nacht" nimmt. Die Angreifer haben den Widerstand aus dem Innern von Baruca unterschätzt. Ihr Anführer Lennon (José García Pérez), der seinerseits Anweisungen von einem Drahtzieher im Hintergrund erhält, muss immer wieder improvisieren, weil Hugo mit seinen Wärtern und ausgewählten Häftlingen eine entschlossene Gegenwehr organisiert. Schon ab Mitte der zweiten Folge eskaliert die Auseinandersetzung zum unkontrollierbaren Action-Blutbad.
Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von Youtube, der den Artikel ergänzt. Sie können sich den Inhalt anzeigen lassen. Dabei können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Weitere Informationen finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
Regisseur Óscar Pedraza ("Patria", "Sky Rojo") lässt den Zuschauer die atemlosen Verfolgungsjagden quer durchs Gefängnis – treppauf, treppab, von Zellenblock zu Zellenblock und immer wieder den kurvenreichen unterirdischen Verbindungsgang entlang – wie ein Ego-Shooter-Game miterleben. In den schnellen Erzähltakt hinein werfen die Autoren Xosé Morais und Victoriano Sierra Ferreiro etliche Plotwendungen, die äußerst fesselnde Wirkung entfalten und die Unterscheidbarkeit zwischen den Guten und den Bösen zunehmend erschweren.
Der aus "Narcos" bekannte Ammann spielt Hugo als Getriebenen, der angesichts seiner unmöglichen Mission so manche moralische Grenze überschreitet und gerade gegen Ende des Sechsteilers ungeahnt dunkle Seiten offenbart. García Pérez stellt ihm einen so ernsthaften und effizienten Lennon gegenüber, dass man sich in manchen Momenten fragt, ob das Anliegen der Söldner nicht doch legitim sein könnte. Daniel Albaladejo wiederum gibt einen ebenso loyalen wie furchteinflößenden Cherokee, der als Anführer der Insassen die perfekte Gelegenheit zur Revolte ergreift. Inmitten des gewaltsamen Aufruhrs bleibt Callejos Psychopath Simón – obschon Dreh- und Angelpunkt von allem, was in dieser Nacht passiert – der einzige ruhende Pol, der niemals wirklich die Kontrolle zu verlieren scheint.
Dass bei den Spaniern auch im Thriller gern mal ein paar melodramatische Elemente drinstecken, ist spätestens seit "Haus des Geldes" geläufig. Der Genre-Mix funktioniert auch hier: Auf engstem Raum zusammengeworfene Schicksale sorgen für verdichtete zwischenmenschliche Dynamik sowie für rasch wechselnde Allianzen und Loyalitäten. Längst nicht alle Fragen sind am Ende der Miniserie beantwortet, nicht alle Motive und Zusammenhänge aufgeklärt. Was im Cliffhanger angedeutet wird, ist so ungeheuerlich, dass es nach mindestens einer weiteren Staffel verlangt.
"Die längste Nacht", bei Netflix