"Erzählt die Geschichten der Opfer, nicht die der Täter!" Nach vielen Terroranschlägen wird in der Berichterstattung gemahnt, dass die Faszination des Bösen zu viel Raum einnimmt und es die Opfer oder aber Zeugen der Greueltaten sind, derer wir gedenken sollten bzw. deren Geschichten zu erzählen wären. Die dänische Serie "Wenn die Stille einkehrt", die derzeit in der Arte-Mediathek zu sehen ist, greift diesen Gedanken auf: Sie erzählt von einem fiktiven Anschlag auf ein Kopenhagener Restaurant und wie dieser das Leben von acht Menschen verändert. Es dauert keine 75 Sekunden und wir erahnen, zunächst angedeutet durch die ersten zu hörenden Schüsse, das furchtbare Ausmaß.
Bis wir in brutalem Realismus und quälend lang den Anschlag zu sehen bekommen, dauert es einige Folgen. Die beiden Schöpferinnen der Serie, Dorte Warnøe Høgh und Ida Maria Rydén, springen zunächst einmal neun Tage vor den Anschlag, um mit den Geschichten von acht Charakteren, die sich an jenem Abend im Restaurant aufhalten werden, ein Sittengemälde des modernen Dänemarks zu entfalten. "Wenn die Stille einkehrt" nimmt sich dabei Zeit und kann das auch, weil man die Aufmerksamkeit durch das zu erwartende Ereignis auf der Haben-Seite hat.
Es geht um die Justizministerin Elisabeth Hoffmann (Karen-Lise Mynster), die sich mit ihrer Frau (Lotte Andersen) zur Ruhe setzen will, aber noch ein wichtiges Gesetz durchbringen möchte. Um den grönländischen Koch Nikolaj (Peter Christoffersen), der sich mit einem Kniff das Restaurant unter den Nagel reißt, in dem er vom bisherigen Chef André (Rasmus Hammerich) angestellt war. Um die Kellnerin Louise (Filippa Suenson), die alleine für ihre neunjährige Tochter Marie (Viola Martinsen) sorgen muss, die in der Nähe eines Asylbewerberheims eine folgenschwere Entdeckung machen wird. Um den Klempner Morten (Jacob Lohmann), der sich durch den Alltag kämpft und um Jamal (Arian Kashef), Sohn libanesischer Einwanderer, der die Führerscheinprüfung vermasselt, aber doch so dringend im Taxibetrieb der Familie mitarbeiten soll.
Es sind viele Figuren, deren Geschichten erst einmal sortiert werden wollen. Da verlangt "Wenn die Stille einkehrt" ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, belohnt aber mit einem umfassenden Porträt gesellschaftlicher Themen und Schieflagen, in der sich einzelne Wege kreuzen aber letztlich nur der verhängnisvolle Abend im Restaurant das verbindende Element ist. Das Wissen um die Probleme, Pläne und Wünsche - es sorgt für eine Bindung zu den eingeführten Figuren, die den in der fünften Folge ausführlich gezeigten Anschlag noch so viel quälender macht und genau das erzeugt, was die Serie erreichen will: Den Fokus auf die Opfer und Zeugen zu legen, nicht die Täter aus Neugier zu glorifizieren. Denn mit dem Anschlag ändert sich das Leben aller, aber auf ganz unterschiedliche Weise.
Dramaturgisch gewinnt die Serie damit zur Halbzeit eine fundamentale Wende. Aber auch wenn die Ermittlungen der Polizei dann einfließen in die Erzählung, bleibt die im vergangenen Jahr in Dänemark ausgestrahlte Serie mehr gesellschaftliches Drama als Krimiserie. Im Kleinen erzählt "Wenn die Stille einkehrt" was der Terror mit einer offenen Gesellschaft macht - und was hängen bleibt. Wie unterschiedlich Menschen ganz persönlich, aber auch politisch mit dem Erlebten umgehen. Eben ein gesellschaftspolitisches Sittengemälde und - nebenbei bemerkt - starkes öffentlich-rechtliches Fernsehen, das sich etwas traut.
Dänemark hat sich in den vergangenen 15 Jahren eine stolze Tradition relevanter und international beachteter Serien erarbeitet. Es begann mit "Kommissarin Lund", die mit drei Staffeln zwischen 2007 und 2012 maßgeblich das Genre Scandi Noir prägte und über Jahre eine Welle der über eine Staffel hinweg erzählen Kriminalfälle auslöste. 2010 folgte mit "Borgen" eine politische Serie mit bislang drei Staffeln und einer vierten, die gerade zusammen mit Netflix entsteht. 2011 feierte "Die Brücke" Premiere. Es folgten drei Staffeln und zahlreiche Adaptionen. Nach einer kurzen Pause liegt mit "Wenn die Stille einkehrt" jetzt wieder eine herausragende dänische Produktion vor.
"Wenn die Stille einkehrt" ist in der Arte-Mediathek abrufbar.