In Spanien muss man Bob Pop nicht weiter vorstellen. Unter diesem Pseudonym gilt der Schriftsteller, Fernsehmoderator, Komiker, Blogger, Kolumnist und Modekritiker Roberto Enríquez längst als Kultstar. Der 50-Jährige, der wegen Multipler Sklerose zeitweise im Rollstuhl sitzt, nutzt seine öffentlichkeitswirksamen Plattformen, um sich als progressive Stimme in gesellschaftliche Debatten einzumischen, allen voran den lebenslangen Kampf für die Rechte der LGBTQ+-Community.
Man kann sich Pop als lebendes Gesamtkunstwerk vorstellen, da alle seine künstlerischen Ausdrucksformen irgendwie ineinandergreifen und mit Leichtigkeit eine Persona zwischen Humor und Schmerz geschaffen haben, von der wohl nur Enríquez selbst weiß, welche Facetten exakt der Wahrheit entsprechen. Vorläufiger Höhepunkt ist die Dramedy-Serie "Maricón perdido", eine Art kreativ verdichtete Autobiografie.
Der von Pop geschriebene und von Alejandro Marín inszenierte Sechsteiler wechselt ständig zwischen zwei Lebensabschnitten hin und her: den frühen Teenagerjahren, in denen Roberto seine Homosexualität entdeckt, und den Zwanzigern, in denen er seinen Weg als Student und kommender Schriftsteller macht. Genau genommen gibt es noch eine dritte Zeitebene: In zwei Szenen in der ersten und letzten Episode spielt Pop sich als 50-jähriger Jetztzeit-Roberto selbst. Davon abgesehen, sind die beiden Hauptdarsteller Carlos González als mittelalter und Gabriel Sánchez als junger Roberto so treffend gecastet und spielen so durchlässig, dass man sie tatsächlich nach kurzer Zeit wie ein und dieselbe Person wahrnimmt.
Das trägt zum Gelingen des Serienkonzepts entscheidend bei, da die häufigen Zeitsprünge Situationen und Empfindungen aus den beiden Phasen miteinander verbinden, ohne den Fluss der Geschichte zu bremsen. Die erste Begegnung mit dem jungen Roberto zeigt einen Außenseiter, der Mitte der 1980er Jahre in einem Arbeiterviertel am Rande Madrids einiges Leid zu schultern hat. Die Kombination aus sexueller Orientierung und Übergewicht macht ihn zum Spottobjekt bei Mitschülern und Nachbarskindern, die ihm "Maricón perdido", zu Deutsch "hoffnungslose Schwuchtel", hinterherrufen. Zu Hause muss er seine exzentrisch-selbstbezogene Mutter (Candela Peña) und seinen selten anwesenden, zu Gewalttätigkeit neigenden Vater (Carlos Bardem) ertragen. Warmherzige Zuneigung erfährt er nur von seinem Großvater (Miguel Rellán).
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Roberto flüchtet sich in Traumwelten, die oft genug umso radikaler mit der Realität kollidieren. Als der Lehrer die Aufgabe stellt, eine historische Persönlichkeit nachzuempfinden, tritt Roberto im weißen Hochzeitskleid als Evita Perón vor die Klasse und singt "Don't Cry For Me Argentina". Visuell einfallsreich verwandelt die Serie das Klassenzimmer in diesem Moment zur großen Theaterbühne, auf der der Junge sich selbst sieht und stehende Ovationen entgegennimmt. Sekunden später wird er auf dem Schulhof ausgelacht und geschlagen, Blut tropft aufs geborgte Hochzeitskleid. Ähnliche Pop-Fantasien wiederholen sich später mit Songs von David Bowie oder Culture Club. Sie kontrastieren Szenen von emotionaler wie körperlicher Härte, die Mittzwanziger-Roberto im schwulen Nachtleben Madrids erlebt. Da wird er im Saunaclub beinahe vergewaltigt und ein anderes Mal nach lang ersehnter, vermeintlich gegenseitiger Zuneigung brutal zur Kasse gebeten.
Das klingt zwar mehr nach Drama als nach Comedy, doch Pop gelingt es, das Ganze mit einer solchen Unverwüstlichkeit und Sinn fürs Absurde zu erzählen, dass er sein Publikum aus jeglicher zermürbender Logik befreit. Ja, in seinem Leben gibt es Angst, Schmerz und Einsamkeit, später auch gesundheitliche Probleme – aber er zeigt sie uns durch eine seltsam optimistische Brille, die vor allem mit seiner positiv-verschmitzten, stets lächelnden Persona in Fiktion und Realität zu tun hat. Im wahren Leben schrieb Pop 2010 seinen Debütroman "Mansos", in dem der Protagonist nach durchzechter Nacht im Saunaclub eine teure Lederhandtasche vermisst und verschiedene Männer des Diebstahls verdächtigt. In der Serie erlebt Roberto ebendiese Szene, und zwar mehrmals nacheinander mit jeweils unterschiedlichem Ausgang, von tragisch bis versöhnlich. Ein typischer Bob-Pop-Spaß: Es handelt sich um die Diskussion mit seinem Lektor – also um das Spiel mit Dichtung und Wahrheit. Das Credo, das er an dieser Stelle sein Alter ego sagen lässt, darf man wohl für bare Münze nehmen: Er mag keine Geschichten, die schlecht ausgehen für jene, die irgendwie anders sind.
"Maricón perdido" ist derzeit in Spanien und Lateinamerika bei TNT, HBO Max und Movistar+ zu sehen. WarnerMedia bringt die Serie gegen Ende des Jahres nach Deutschland zu Warner TV Serie (bisher TNT Serie).