Was Sünde ist, was nicht, das hat bekanntlich viel mit denen zu tun, die sie definieren. Jemanden umzubringen, gilt seit jeher als Sünde. Es sei denn, dieser Jemand hat selbst zuvor irgendwen umgebracht. Dann wird das Töten mit dem Tod gesühnt, womit bewiesen wäre, dass die Sache mit der Sünde schon immer, nun ja, kompliziert war – und zwar keinesfalls nur in vormoderner Zeit, sondern menschheitsgeschichtlich gesehen gestern, genauer: 1981.
In dem Jahr fliehen die drei Hauptfiguren einer vorzüglichen Fernsehserie aus Großbritanniens rückständiger Provinz ins vermeintlich aufgeklärtere London und erleben dort ihr blaues Wunder. Zum einen nämlich können Ritchie (Olly Alexander), Roscoe (Omari Douglas) und Colin (Callum Scott Howells) in der urbanen Anonymität endlich unverstellt ihre Homosexualität ausleben. Allerdings nur im eigenen Mikrokosmos, weshalb die Mehrheitsgesellschaft jener gar nicht allzu fernen Tage zum anderen noch derart schwulenfeindlich war, dass der Starzplay-Fünfteiler so heißt, wie die durchschnittliche Sicht auf sexuelle Normabweichung: „It’s a Sin“.
Als könnte Liebe Sünde sein…
Es ist ein tragikomischer Aufschrei der Erniedrigten und Diskriminierten, der Entrechteten und Vernichteten, den Russell T Davies 20 Jahre nach seiner homosexuellen Hochglanzserie „Queer as Folk“ da bebildert. Der renommierte Drehbuchautor, zuletzt hauptverantwortlich für die wunderbare Politsatire „Years and Years“, hatte einst selbst im London der revisionistischen Thatcher-Jahre gelebt und offenbar eine Menge Spaß dabei. Gleich in der ersten Folge ziehen seine Protagonisten schließlich in eine Wohngemeinschaft taufen sie „Pink Palace“ und feiern dort ihre Selbstbehauptung mit so euphorischer Energie, dass die Wolken am Horizont vorerst nur einer Randnotiz wert sind.
Bald aber donnert es richtig. Bei seiner Zeitungslektüre am Morgen liest Mitbewohner Ash (Nathaniel Curtis) zunächst nur von einer „mysteriösen Krankheit“, die unter „Schwulen-Krebs“ firmiert. Doch noch bevor Fachbegriffe wie HIV kursieren, verändert „It’s A Sin“ radikal sein Erscheinungsbild. Denn anfangs ein gutgelauntes Empowerment-Plädoyer für die (homo)sexuelle Emanzipation, schlägt das System bald gnadenlos zurück. Die erste Gewalt drischt dabei mit Polizeiknüppeln auf Andersliebende ein, die zweite mit Gesetzen, die dritte mit Untätigkeit, die vierte mit einer desinformierenden Hetzjagd, in der Aids und schwul als Synonyme gelten.
Die homophobe Indoktrination funktioniert letztlich so gut, dass selbst die beste WG-Freundin Jill (Lydia West) von Paranoia getrieben einen Becher erst schrubbt, dann versteckt, schließlich zerdeppert, aus dem ein Freund mit HIV-Diagnose Kaffee getrunken hatte. War es anfangs noch zum Schreien komisch, als der afrikastämmige Roscoe vorm Umzug im Frauenfummel das elterliche Wohnzimmer stürmt, wo seine erzkonservative Verwandtschaft gerade die homosexuelle Teufelsaustreibung plant, kippt der Aufbruchsgeist spätestens zur Mitte hin in Richtung Abwehrschlacht. Allein: er fällt nicht.
Denn auch aus seiner eigenen Biografie heraus lässt Showrunner Davies sein Personal glaubhaft wie kaum ein zweiter, aus Niederlagen Energie gewinnen und selbst aus dem Tod noch Leben. Während schwule Männer wie Colins Schneiderei-Kollege Henry – hinreißend queer verkörpert vom „How I Met Your Mother“-Star Neil Patrick Harris – plötzlich reihenweise sterben, während auch der engste Freundeskreis nicht von einer Seuche verschont wird, die bis heute (kurz abgesehen von Covid-19) mehr Menschen tötet als jede Infektionskrankheit sonst, während die Stimmung im „Pink Palace“ also unwiderruflich in den Trauermodus schaltet, behalten die Betroffenen ihre Häupter lange Zeit erhoben.
Über zehn Jahre hinweg begleitet Regisseur Peter Hoar seine Protagonisten durch den Überlebenskampf in einer feindseligen Umgebung inklusive Eltern, und alle – ganz besonders der auch privat schwule Hauptdarsteller Olly Alexander als Frohnatur Ritchie – schaffen es, Mut zu verströmen, wo das Leid überwiegt. Wenn die Kamera minutenlang aufs Sterben vieler Charaktere hält, grenzt die Melodramatik zwar gelegentlich ans Pathos. Niemals jedoch duldet sie Gefühlsduselei, Kitsch, gar Effekthaschereien.
Damit unterscheidet sich „It’s a Sin“ wohltuend von Fernsehformaten, die Homosexualität im heterosexuellen Mainstream zunehmend haltungsstark thematisieren. Ohne das stilistisch prägende Jahrzehnt der Achtziger je überzudekorieren, blickt das Format begleitet von den Hits der 80er durch die Augen der Hauptfiguren auf ihre Welt ringsum, nicht umgekehrt. Das gelang zuletzt zwar auch der lustorientierten ARD-Serie „All You Need“ oder dem beeindruckenden Netflix-Epos „Pose“; obwohl die Zeiten zweier Sorten Schwule – mit Federboa oder Lederhose – langsam vorbei sind, denken allerdings selbst wachsame Sozialdramen auf Arte schwules Leben noch immer allzu oft von der Opfer- und Täterseite her.
Wenn es politisch wird, kommt daher meist die Liebe zu kurz und umgekehrt. Hier dagegen halten sich Umstände und Emotionen stets die Waage – und sorgen so für eine der sehenswertesten Emanzipationsbeobachtungen, in der LGTBQs von tuntig über spießig bis irgendwie einfach egal wirklich alles sein dürfen. Vor allem aber: berührend, nicht rührend.
"It's a Sin": Zu finden bei Starzplay.