Unter Südtirol-Urlaubern gilt der versunkene Kirchturm mitten im Reschensee als Wahrzeichen des Vinschgaus. Schon bald könnte er als Sinnbild für Netflix-Horror aus Italien stehen. Die echte Region und ihre Geschichte haben die Serie mehr als nur inspiriert: Im Juli 1950 wurde das Dorf Graun, italienisch: Curon, einem riesigen Stausee geopfert, um den Norden des Landes mit Strom zu versorgen.
Gegen den Widerstand der Einwohner wurden 180 Gebäude abgerissen oder gesprengt, zwei Seen künstlich vereint, der Wasserspiegel auf 22 Meter angehoben und alles überflutet. Nur der 600 Jahre alte Glockenturm der Sankt-Katharina-Kirche überlebte die Explosion und ragt seither schaurig-schön aus dem Wasser. Der Legende nach kann man seine Glocken noch heute in manchen Nächten läuten hören – obwohl sie damals vor der Flutung entfernt wurden.
"Curon" greift Stimmung und Legende auf und überhöht sie mit originellen Einfällen zum Supernatural-Stoff, der gekonnt zwischen Horror, Mystery und Drama changiert. In der Serie sind diejenigen, die die Glocken hören, dem Verderben geweiht. Im Zentrum des Plots stehen die Teenager-Zwillinge Daria und Mauro, die von ihrer alleinerziehenden Mutter Anna aus Mailand in die alte Heimat verfrachtet werden. Anna selbst hatte Curon vor 17 Jahren als Schwangere überstürzt verlassen, kurz nach dem tragischen Tod ihrer Mutter. Schnell merken Daria und Mauro, dass sie in dem Dorf nicht willkommen sind.
Sogar ihr eigener Großvater drängt sie zur Rückkehr nach Mailand: Der ewige Albtraum, der Anna plagt und in dem sie selbst es ist, die ihre Mutter tötet, werde sonst auch zum Albtraum der nächsten Generation. Noch viel schlimmer: Kurz darauf ist Anna verschwunden, Spuren im Wald lassen auf eine Entführung schließen. Die Zwillinge machen sich auf die Suche nach ihr – auf eigene Faust, weil sie keinem der Erwachsenen so richtig trauen. Im Lauf der sieben Folgen kommen sie nach und nach hinter das bedrohliche Geheimnis, das der mysteriöse Ort verbirgt und das ganz besonders ihre eigene Familie betrifft.
Um die komplette Serie vorab zu sehen, hat man sich als Rezensent gegenüber Netflix verpflichtet, wesentliche Plotpoints unerwähnt zu lassen. Das ist völlig okay, denn die Faszination, ja der Sog von "Curon" liegt in der Paarung atemloser Spannung mit an- und abschwellendem Schauder. Headautor Ezio Abbate ("Suburra", "Devils") und die jungen Regietalente Fabio Mollo und Lyda Patitucci haben sich mit an Grausamkeit grenzender Präzision überlegt, wie wenig sie aussprechen und zeigen, wie viel sie zunächst der Vorstellung des Zuschauers überlassen. Der Erzählrhythmus drängt mit hohem Tempo voran, die hochwertige Filmästhetik orientiert sich mit dunklen Bildern und kalten Farbtönen an vertrauten internationalen Genrevorbildern von "Dark" bis "Stranger Things".
Besonders überzeugend sind die Zwillinge Daria und Mauro gezeichnet – als Antipoden vom selben Kern. Sie ist extrovertiert, raubeinig und weiß sich zu verteidigen; er ist still, einfühlsam und wäre ohne die Intervention seiner Schwester so manches Mal hilflos. Abgesehen davon, dass die Serie tradierte Geschlechterrollen mit schöner Regelmäßigkeit unterläuft, ergänzen die Zwillinge einander in einem geradezu osmotischen Prozess: Ihre positiven wie negativen Einflüsse übertragen sich auf den jeweils anderen und bedingen so das gemeinsame Handeln. Die begabten Jungschauspieler Margherita Morchio und Federico Russo sind denn auch – neben "Sense8"-Star Valeria Bilello als Anna – die wesentlichen Assets auf dem Bildschirm.
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Interessantes Detail am Rande: "Curon" ist nicht nur Italiens erste TV-Serie im Supernatural-Genre, sondern auch das erste Netflix-Original, das von der Südtiroler Filmförderung IDM mit 350.000 Euro Produktionsförderung unterstützt wurde – was wiederum der Mailänder Produktionsfirma Indiana Production eine stärkere Rechteposition gegenüber dem Streaming-Riesen ermöglichte.
"Curon", ab 10. Juni bei Netflix