Konsequenter als alle anderen deutschen TV-Sender hat sich Arte seit ein paar Jahren auf Science-Fiction- und Near-Future-Stoffe in Serie eingelassen. Freilich kommt dieser spannende Impuls im Wesentlichen von der französischen Seite der Zwei-Länder-Anstalt. Während "Trepalium" – deutscher Titel: "Stadt ohne Namen" – im Frühjahr 2016 noch nicht ganz so gut funktionierte, kam "Transferts" alias "Im fremden Körper" im Herbst 2017 schon deutlich besser an.
Es ist schön zu sehen und programmstrategisch lobenswert, wie sich das Fiction-Team von Arte France innerhalb des Genres weiter vorantastet. Vorläufiger Höhepunkt: "Ad Vitam", eine teils fesselnde, teils verstörende Mischung aus Zukunftsvision und Krimi. Autor und Regisseur Thomas Cailley beschreibt eine Gesellschaft, die den Tod dank medizinischem Fortschritt besiegt hat – allerdings erschüttert wird, als die Leichen von sieben jugendlichen Selbstmördern auftauchen. Der 119-jährige Polizist Darius (Yvan Attal) leitet die Ermittlungen.
Gesellschaftskritik in Form von SciFi – also vom Morgen erzählen, um das Heute zu hinterfragen – bezeichnete Laurence Herszberg, Festivaldirektorin der Séries Mania, im Mai als einen der großen Trends des Jahres. Am Ende zeichnete die internationale Kritiker-Jury des Festivals tatsächlich "Ad Vitam" als beste französische Serie aus. "Diese schwarze, in die Zukunft blickende Serie hat viel über die Welt zu sagen, in der wir heute leben", so die offizielle Begründung. "Ganz besonders über den Konflikt der Generationen."
Wenn man die ersten zwei Folgen des Sechsteilers anschaut, ist man zunächst damit beschäftigt, diese seltsame Welt einordnen zu wollen, die zwar äußerlich so vertraut scheint, jedoch in grundlegenden Fragen des menschlichen Miteinanders so vollkommen anders tickt. Rasch folgt die Erkenntnis, dass es vor allem die Jungen sind, die hier leiden und kaum Perspektiven haben, wenn keiner mehr stirbt und die Alten ihre Positionen auf ewig behalten. In "Ad Vitam" – lateinisch für "zum Leben" – halten die Menschen ihren Alterungsprozess dadurch auf, dass sie regelmäßig zur "Regeneration" gehen, einer Art von biochemischem Jungbrunnen. Hauptfigur Darius hat nach drei solcher Regenerationen nicht nur seinen 120. Geburtstag, sondern auch das Leben insgesamt noch vor sich.
Wie kann man diesen Fortschritt bloß ablehnen und sich, wie einige Widerständler, der Regeneration verweigern? Oder, noch schlimmer, das vermeintliche Geschenk des ewigen Lebens durch Selbstmord in jungen Jahren zerstören? Das sind die existenziellen Verständnisfragen, auf die Darius, so wie die Mehrheit der Gesellschaft, zu Beginn keine Antwort hat. Um mit seinen Ermittlungen überhaupt voranzukommen und Zugang zum richtigen Milieu zu finden, braucht er die Hilfe von Christa (Garance Marillier), einer psychotischen 24-Jährigen, die jahrelang in einer Haftanstalt eingesperrt war, weil sie vor zehn Jahren jener Sekte angehörte, die junge Leute zum freiwilligen Tod verführt und nun möglicherwiese wieder vermehrt zuschlägt.
Cailley und sein Co-Autor Sébastien Mounier legen diese Christa raffiniert als die eigentlich faszinierendste und mächtigste Figur der Serie an, obwohl – oder gerade weil – es ihr so schwer fällt, ihren Platz im Leben zu finden. Mit ihrer radikalen Gegenperspektive bringt sie Darius' Gewissheiten recht bald ins Wanken. Das funktioniert auch deshalb so gut, weil Marillier eine herausragende schauspielerische Leistung an den Tag legt: von höchster Intensität und berührender Kraft, aber gleichzeitig auch von wahnsinniger Präzision.
"Ad Vitam" entfaltet einen gedanklichen Sog, der den Zuschauer förmlich dazu herausfordert, auch seine eigenen Ideen und Ideale zu hinterfragen: Worin liegt das Wesen unserer Existenz? In welcher Gesellschaft wollen wir morgen leben? Wie schaffen wir den Ausgleich zwischen Jung und Alt, den wir einst per Generationenvertrag geregelt glaubten? Die Stärke der Serie besteht darin, dass sie ihre moralischen und philosophischen Fragen im dystopischen Spannungsplot verpackt. Und dass sie nicht in erster Linie auf die klassische Struktur polizeilicher Ermittlung setzt, sondern vielmehr auf die stellvertretende Sinnsuche ihres ungleichen Duos, das sich von entfernten Polen aufeinander zubewegt.
"Ad Vitam" wurde von der Lagardère-Studios-Tochter Kelija ("Trepalium") produziert und ist ab Ende Oktober bei Arte zu sehen.