Was haben Sie für ein Bild vor Augen, wenn Sie an die französische Hauptstadt Paris denken? Den Eiffelturm in romantischer Abendkulisse oder die ein oder andere Szene aus einer Hollywoodschnulze, nicht wahr? Tja, das verdrängen Sie bei "Engrenages" bitte mal ganz schnell. In Wahrheit wird die Stadt der Liebe hier von ihrer abschreckensten Seite gezeigt: Man sieht die Sonne nie scheinen, alles ist kaputt oder dreckig oder beides und wenn es zu zwischenmenschlichen Interaktionen kommt, gibt es hier niemanden, der Freundlichkeit oder Hilfsbereitschaft anstrebt. Bei den ersten beiden Aspekten driftet man in eine teils übertrieben pessimistische Haltung, die der Realität nicht immer gerecht wird. Beim dritten Punkt überlasse ich Ihnen ihr eigenes Urteil.
Dass "Engrenages" keine Wohlfühltour wird, zeigt sich bereits in der ersten Szene der ersten Folge. Die Kamera schwenkt ein und der Zuschauer bekommt zur - mehr oder weniger - seichten Einstimmung eine schrecklich zugerichtete Frauenleiche vorgesetzt, die auf einer Mülldeponie gefunden wird. Für Menschen mit schwachen Nerven und Magen sei gesagt, dass es in dieser Hinsicht von hier an nur schlimmer wird. In der Tat sorgt das unablässige Zeigen von hungerablenkenden Szenen beinahe dafür, dass man sich in der Übertriebenheit absurderweise stellenweise an Monty Phytons Stil erinnert fühlt. Öfters als auf eigenartige Weise komisch fühlt sich "Engrenages" wegen seiner knallharten Konsequenz meist jedoch schwer irritierend an, da diese im Fernsehen noch immer keinen Standard gefunden hat. An mancher Stelle denkt man sich "Zum Glück". Erschütternder als die präsentierte Kompromisslosigkeit ist eigentlich nur die Frisur der Protagonistin Laure Berhaud.
Laure wird von Caroline Proust ("Ca$h") gespielt und leitet mit ihrer gnadenlos ernsten Art eine Truppe voll von Polizei-Rüpeln in den gefährlichsten Straßen der Pariser Schattenseiten. Im Zusammenspiel mit Staatsanwaltschaft und Gericht möchte "Engrenages", das im Englischen den Namen "Spiral" trägt, eine multiperspektivische Sicht auf den französischen Prozessablauf einzelner Kriminalverfahren darlegen. Den gerne mal angebrachten Vergleich mit der US-amerikanischen Erfolgsserie "The Shield" sollte man "Engrenages" jedoch nicht zumuten. Das liegt vor allem an Prousts geschriebener Figur. Die weibliche Detektivin wirkt in den anfänglichen Episoden nämlich nicht wie eine gestandene Führungsperson, sondern eher wie eine verklemmte und sich nicht entscheiden könnende junge Dame, die immer wieder viel lieber mit ihrem Pferdeschwanz beschäftigt ist. In der Tat spielt ihre Frisur eine größere Diskussionsgrundlage als man anfangs vermuten mag, untergräbt sie stellenweise komplett die Glaubwürdigkeit ihrer Person und dem strengen Kontext, in dem sie sich befindet.
Durchhaltungsvermögen wird hier aber außerordentlich belohnt. So gelingt den französischen Machern Richtung Staffel 2 ein Quantensprung in der Qualität. Wo die Autoren in den ersten Folgen noch alles daran gesetzt haben, ihren Zuschauern immer und immer wieder zu zeigen, wie pervers und krank Menschen agieren können, setzt man nun auf das, auf was es schon viel früher hätte ankommen müssen - die Story. Wie ein Schmetterling befreit sich die Erzählung aus dem Kokon der zurückgehaltenen Möglichkeiten und bietet auf einmal eine packende und vielschichtige Erzählung über den Aufstieg und Niedergang einer Drogenbande. Hat man in der ersten Staffel einen Vergleich mit “The Shield” lieber außen vorgelassen, da es sonst ein schnelles und böses K.O. gegeben hätte, kann sich “Engrenages” nun mit einer anderen, aber nicht weniger meisterhaften Serie messen. In Gegenüberstellung mit “The Wire” muss man sich nämlich kaum verstecken. Der französische Titel der Serie macht mit etwas Verspätung auch endlich Sinn. “Getriebe” oder auch “Verkettung” und “Räderwerk” heißt er übersetzt und beschreibt perfekt, wie die Zahnräder dieser Produktion wie geschmiert ineinander greifen und funktionieren. Auch toll: Ermittlungschefin Laure Berthaud bekommt einen frischen, sensiblen Charakterzug zugeschrieben, der obendrauf absolut glaubwürdig funktioniert.
Was sich trotz dieser Wende nicht ändert, ist die Tatsache, dass die Hauptrollen von den Nebenfiguren unter den Tisch gespielt werden - Prousts Charakter kratzt weiterhin nur an der Oberfläche ihrer Möglichkeiten und der stellvertretende Staatsanwalt Pierre Clément (Grégory Fitoussi) macht eigentlich nichts, außer auf und ab zu laufen und angestrengt nachdenkend auszusehen. Doch wenn Gangster Aziz (Reda Kateb, “Ein Prophet”) auf den Putz haut oder die fabelhafte Audrey Fleurot (“Midnight in Paris”) als Anwältin Joséphine Karl aufläuft, sind es nur ein paar Namen, die mit ihren wenigen, aber eindrucksvollen Momenten, für die besten Szenen der Serie sorgen.
"Engrenages" ist mit einem Fehlstart ins Rennen gestartet, konnte sich aber zum Glück rechtzeitig fangen, um mit Bestgeschwindigkeiten in die nächsten Runden zu starten. Die im Frühjahr 2013 auf Einsfestival zum ersten Mal in Deutschland ausgestrahlte Krimiserie ist ein mächtiges, französisches Statement in einem Genre, das überlaufener nicht sein könnte. Mit ganz viel Hingabe haben sich die Macher mit korrekter Ermittlungsdarstellung beschäftigt und eine Serie abgeliefert, die so spannend wie lehrreich ist. Da verschmerzt man auch liebend gerne das neue Bild, das man von der vermeintlichen Stadt der Liebe verpasst bekommt.
"Engrenages" läuft mit der 2. Staffel derzeit jeden Mittwoch um 22:15 Uhr auf Sony Entertainment TV und ist im Anschluss bei Select Video von Vodafone Kabel Deutschland verfügbar.