Die Franzosen und die Politik, eine ganz besondere Beziehung. Wie politisiert und gespalten die Gesellschaft unserer Nachbarn ist, spürt man an den massiven Streiks, die ausgerechnet während der Fußball-EM große Teile des öffentlichen Lebens lahm legen. Im Vergleich dazu fühlt es sich für Franzosen hierzulande nach zahmer Konsensgesellschaft an.

Vielleicht kommt die Netflix-Serie "Marseille" deshalb international besser an als in ihrem Ursprungsland, wo die Enttäuschung groß war. Wer ein französisches "House of Cards" erwartet hatte, konnte nur enttäuscht werden, weil sie in einem anderen Genre unterwegs ist: Familien-Soap statt Polit-Drama. Wer "Marseille" aus diesem Grund abgebrochen hat, wird "Baron Noir" mit hoher Wahrscheinlichkeit lieben.

 

Als der französische Pay-TV-Sender Canal+ seine achtteilige Eigenproduktion zwischen Februar und April ausstrahlte, schlugen die Wellen hoch. Die Politik werde lächerlich gemacht, ihr Image durch die Serie gezielt verschlechtert, soll Präsident François Hollande nach Informationen des Boulevardblatts "Le Parisien" intern getobt haben. "Baron Noir" sei ein "Eintauchen in das politische Leben Frankreichs mit allem Unlauteren, das es eben enthalte", lobte dagegen "Le Figaro".

Eric Benzekri und Jean-Baptiste Delafon, die beiden Creator und Autoren der Serie, erzählen die ebenso schillernde wie spannende Geschichte von Philippe Rickwaert, fiktiver Bürgermeister von Dünkirchen und hohes Tier innerhalb der sozialistischen Partei. Als rechte Hand und enger Vertrauter seines politischen Ziehvaters Francis Laugier managt er dessen Wahlkampf als aussichtsreicher Präsidentschaftskandidat der Linken. Als kurz vor der Wahl ein Parteiskandal aufgedeckt wird, muss Rickwaert als Bauernopfer herhalten. Von nun an treibt ihn nicht nur die Mission, seine politische Karriere wiederherzustellen, sondern auch den Mann zu vernichten, der ihn verraten hat – den frisch gewählten Präsidenten.

Kad Merad, bekannt als Hauptdarsteller von "Willkommen bei den Sch'tis", hat sich die Rolle des schwarzen Barons wie eine zweite Haut angezogen. Die Grenzen zwischen Sym- und Antipathie verschwimmen ständig, wenn er Schritt für Schritt seine Rache plant. Der Traum einer ambivalenten Serien-Hauptrolle: Rickwaert agiert zwar äußerst hinterlistig, ist aber im Grunde seines Herzens eine ehrliche Haut. Freundschaften pflegt er mit Polizisten wie mit Kriminellen aus der Unterwelt. Der fortwährende Kampf gegen seine Feinde und gegen seine eigenen Dämonen macht sein Leben zum organisierten Chaos. Auch Niels Arestrup ("By the Sea") als Laugier und Anna Mouglalis ("Romanzo Criminale") als Amélie Dorendeu – die engste Beraterin des Präsidenten, die Rickwaert auf seine Seite zieht – liefern intensive Schauspielkunst.

Wer sich zumindest oberflächlich mit dem realen Geschehen im Nachbarland auskennt, wird in "Baron Noir" immer wieder frappierende Parallelen ausmachen, die eine Politikredakteurin des "Figaro" im März "wahrer als wahr" nannte. So spielt in der Serie die Mobilisierung von Schüler- und Studentenbewegungen gegen die Pariser Zentralregierung eine wichtige Rolle in Rickwaerts Racheplan. Dem echten Hollande macht just in diesem Frühjahr, während und nach Erstausstrahlung der Serie, die "Nuit Debout"-Bewegung zu schaffen, die im Kampf gegen die Arbeitsmarktreform der Regierung den Pariser Plaçe de la République besetzte. Premierminister Manuel Valls, der die "Baron Noir"-Premiere im Februar besucht hatte, musste sich seither von mehreren Oppositionspolitikern explizite Verweise auf Details der Serie anhören.

Das ist kein Wunder, weil die Autoren Benzekri und Delafon ihre Hausaufgaben in Sachen Authentizität gemacht haben. Freilich legen sie Wert darauf, dass es ihnen nicht um eine individuelle Person als Vorlage ging, sondern um ein "Kondensat einer ganzen Generation von führenden Köpfen der sozialistischen Partei", so Benzekri in einem Radiointerview. Etliche Abgeordnete der echten PS hätten ihre Partei und deren Probleme wiedererkannt. Benzekri war in den 80ern und 90ern lange Zeit selbst in der Partei aktiv gewesen.

Notwendig ist dieses Vorwissen nicht, um "Baron Noir" einfach als mitreißenden Bingewatching-Kandidaten zu verschlingen. Hass, Leidenschaft, Machtkämpfe und jede Menge ungeahnte Wendungen sind die Zutaten, die in hohem Erzähltempo den Reiz der Serie ausmachen. Das alles wird von vielschichtigen Charakteren mit komplexer Psychologie getragen und entfaltet wahres Suchtpotenzial. Die zweite Staffel ist bereits in der Mache. Der Programmvertrieb Studiocanal ist derzeit mit interessierten deutschen Sendern im Gespräch, noch gibt es jedoch keinen Abschluss. Solange bleibt als Alternative die französische Originalversion, die als Import-DVD erhältlich ist.